Die Nachhut
andere Frage: Denn, Liesbeth - was ist nur aus unserer geliebten Hauptstadt geworden?
Daß mir die Alleen schmaler, die Häuser niedriger und die Berliner unhöflicher vorkommen, mag daran liegen, daß ich bei meinem letzten Besuch noch ein Kind war. Aber sonst: ein gottverlassenes Chaos. Nichts mehr übrig von Aufbruch, neuer Zeit und neuen Menschen. Und das ist nur der erste Eindruck.
Ermattet und geschlagen steigen die Leute in die S-Bahn ein und aus. Sie tragen zwar bunte Kleider, aber ihre Augen sind stumpf und ohne Feuer. Streift uns ein flüchtiger Blick, rücken sie ab. Lächeln wir, schütteln sie angewidert den Kopf.
Wenigstens, so glaubt Josef, verfolge uns hier keiner mehr. Ich fürchte allerdings, es interessiert sich nur keiner für uns, so groß ist die Not. Von vielleicht 30 Leuten in unserem Waggon tragen gerade mal fünf Anzug oder Kleid. Sie können sich nicht einmal mehr anständige Straßenkleidung leisten. Billige Stoffe, bunt und unförmig geschnitten. Alle Herren ohne Hut. Junge Mütter mit Kinderwagen gehen aus dem Haus wie Freudenmädchen. Bettler mit Haaren bis auf die Schulter spielen Gitarre. Niemand geniert sich mehr für seine Armut und die Bürden des ewigen Krieges.
Ein Mädchen sitzt uns gegenüber, das tapfer die Verletzungen von winzigen Granatsplittern erträgt. Nichts Lebensgefährliches, nur oberflächlich in der Haut - dennoch wurden sie nicht etwa entfernt, sondern sehen aus wie frisch poliert. In der Nase und sogar in den Augenbrauen - überall glänzt es metallisch, und ich glaube, ihr Bauchnabel wurde auch getroffen.
Apathisch starren alle vor sich hin: ein gebrochenes, gedemütigtes Volk. Ihre feindseligen Blicke, da bin ich nun wieder ganz sicher, galten nie uns persönlich. Sie sind nur verstört, wenn ihnen jemand aufrecht gegenübertritt. Als ich den einzigen jungen Mann im Wagen nach Fahrkarten frage, explodiert er sofort, nennt mich Alter und fragt, ob ich Stress wolle. Sein Hosenboden hängt bis zu den Knien durch. Um den Hals trägt er schwere Ketten aus Gold. Ich stehe auf und trete auch einen Schritt näher. Doch noch bevor ich ihn ermahnen kann, schubst er mich auf den Sitz zurück und springt aus dem anfahrenden Zug. Vom Bahnsteig dröht er immer noch mit der Faust und zeigt mit dem Mittelfinger an die Bahnhofsdecke.
Josef meckert, wieso ich den Burschen nicht in Ruhe gelassen hätte. Vielleicht sei meine Frage einfach zu absurd gewesen. Wozu auch noch Fahrkarten, so eng wie die Volksgemeinschaft derzeit zusammenrückt? Er hält es für ein Zeichen von Normalität, daß wir einigermaßen unbehelligt vorwärtskommen, und erkennt sogar ein paar Stationen wieder:
Schlachtensee. Zehlendorf. Lichterfelde. Was man davon sieht - weitgehend unzerstört.
Eine Tafel mit bunten Strichen und Linien hängt neben der S-Bahn-Tür und teilt die Reichshauptstadt in Kreise und Sektoren. Mit Josefs Erinnerung hat dieser Stadtplan wenig zu tun. Trotzdem behauptet er stur, wir müssten am Anhalter Bahnhof raus. Von dort seien es nur ein paar Schritte bis zum Prinz-Albrecht-Gelände, wo sie alle sitzen, Sicherheitshauptamt und Reichsführung SS. Bei wem genau wir uns zu melden hätten, werde sich dann schon zeigen.
Mit jeder Station wird es enger in der Bahn und plötzlich mit einem Schlag dunkel. Stotternd springen Leuchtstoffröhren an. Josef lächelt über meinen Schreck und erklärt stolz, daß die S-Bahn hier unterirdisch verlaufe. Meinem klammen Herz bekommt das nicht - wieder unter der Erde - und erleichtert atme ich auf, als wir aussteigen. Über eine Rolltreppe, wie man sie sonst nur aus großen jüdischen Warenhäusern kennt, schweben wir nach oben. Dann allerdings fehlen auch Josef die Worte.
Den Anhalter Bahnhof gibt es nicht mehr.
Keine Halle, weder Schalter noch Gleise, nur offener Himmel. Aber der Name stimmt: Anhalter Bahnhof steht auf einem Schild über dem Ausgang, das verloren auf einem öden Platz steht, genau wie wir. Josef stützt sich auf ein Geländer und dreht sich einmal um die eigene Achse. Stammelnd sortiert er dabei Luftschlösser und deutet mit der Hand an, wo sie einmal gestanden haben: Da das Hotel Excelsior, die größte Herberge des Kontinents; dort das Völkerkundemuseum, Schliemanns berühmte Sammlung; und gegenüber der Bahnhof. Alles weg.
Er verstehe das nicht, sämtliche Strecken nach Süden hätten hier geendet, Dresden, Wien, Rom. Im Takt der Züge sei der Askanische Platz samt seinen Bierkellern und Geschäften mit immer neuen
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