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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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ist.« Es musste sein: »Du, ich meine Sie, ihr alle - das ganze Dritte Reich ist Vergangenheit. Es ist vorbei, verloren, schon lange. Zum Glück!«
    »Aha! Na endlich. Du also auch!«
    Eigentlich hatte ich erwartet, er würde sofort zusammenbrechen und sein sinnlos vergeudetes Leben beklagen, heulend, ohnmächtig oder beides. Selbst wenn er seine Pistole gezogen hätte, um sich auf der Stelle zu erschießen, hätte mich das an seiner Stelle nicht überrascht. Fritz von Jagemann aber sah mich nur höhnisch an, als hätte er darauf schon lange gewartet.
    »Und warum müssen wir uns dann verstecken? Warum jagen sie uns wie den Teufel persönlich? Was ist mit den Russen, der Schlacht am Fluss - und was ist mit dir, Junge? Wieso spielst du uns erst etwas vor, wenn doch alles ganz anders ist?«
    »Weil ich ...« Woher wusste er das? »Weil ich dachte ...«
    »Ich werde dir sagen, was du denkst«, unterbrach er mein Gestammel, »du denkst, ich bin ein alter Mann, der nicht merkt, was hier los ist: eure Angst. Der Verrat. Und die Scham darüber. Vielleicht denkst du sogar, man könne auf beiden Seiten mitspielen und so der Vorsehung ein Schnippchen schlagen. Könnte ja sein, dass sich das Blatt noch mal wendet. Und das ist wirklich das Letzte, durch und durch verkommen.«
    »Fritz!«
    Dass ich ihn beim Vornamen nannte, irritierte ihn kurz, mich aber auch - und mit einer Handbewegung, als sei bei mir sowieso Hopfen und Malz verloren, ließ er sich in meinen Lieblingssessel fallen, seufzte schwer und vergrub sein Gesicht in beiden Händen. Wie ein Kind, das eigentlich aufbegehren will, aber seinen Trotz nicht in Worte fassen kann, saß er da. Fehlte nur noch, dass er sich die Finger in die Ohren steckte. Einer wie er, so viel war klar, würde es nur auf die harte Tour begreifen, wenn überhaupt. Trotzdem tat er mir auch leid.
    »Fritz«, sagte ich noch einmal so eindringlich wie ein Sonderpädagoge. »Der Krieg ist vorbei, über 60 Jahre schon! Unvorstellbare Verbrechen, ich meine: Alles, an das du glaubst...«
    Wieder blieb ich auf halbem Weg stehen. Ich war nicht sicher, wie viel ich ihm auf einmal zumuten konnte. Was davon überhaupt zu ihm durchdrang. Er knetete seine Mütze zwischen den Knien, strich sie wieder glatt und betrachtete lange das silberne Totenkopf-Emblem über dem speckigen Schirm.
    »Allein diese Runen und das alles. Was glaubst du, warum die Leute so eine Panik haben? Die schwarzen Uniformen. Der Totenkopf. Lauter Symbole für Massenmord und Terror. Ihr seid ein Albtraum. Der Albtraum schlechthin in diesem Land! Was soll dieser Totenkopf denn bedeuten, wenn nicht Menschenverachtung?«
    »Todesverachtung, zum Beispiel«, sagte er ruhig und begann, das Abzeichen mit seinem Ärmel zu polieren, »eine Erinnerung an die Befreiungskriege. Schill und seine Husaren trugen ihn, später die Leibgarde des Kaisers, eine adlige Eliteeinheit. Preußische Tradition. Weißt du was, mein Junge: Ich glaube du bist derjenige, der keine Ahnung hat.«
    Er sah mich selbstbewusst an, stülpte sich den Deckel wieder über, und wenn ich geglaubt hatte, ich hätte ihn schon geknackt, dann hatte er Recht: Ich hatte wirklich keine Ahnung.
    »Gerade wegen der schicken Uniform träumte jeder deutsche Junge davon. Hohe Beamte schmückten sich sogar damit, obwohl sie nicht im aktiven Dienst standen, ehrenhalber, es war ...«
    »Träumte, schmückten, war. Du bist auf dem richtigen Weg, Fritz: alles Vergangenheit.«
    »Aber das ganze Volk ...«
    »Vergiss das Volk, nimm nur mal mich: Ich habe vorher nie einen SS-Mann gesehen. Ich kenne das nur aus der Schule, von Fotos und Filmen. Trotzdem läuft es mir eiskalt den Rücken runter, wenn ich nur daran denke, wie man so was anziehen konnte, freiwillig womöglich - unvorstellbar! Kurz nach dem Krieg haben sie Leute wie dich reihenweise erschossen.«
    So wütend machte mich seine sture Ignoranz, dass ich nach und nach alle Skrupel verlor. Es stand mir nicht zu, ihn zu verurteilen. Aber jede weitere Schonung würde seinen Aberglauben nur befeuern. Er musste da durch. Jetzt. Vielleicht schwante ihm schon, dass er nicht nur seine Jugend vergeudet hatte wie Millionen andere, sondern über 60 Jahre seines Lebens. Vielleicht konnte er die Wahrheit deshalb nicht wahrhaben, weil gewissermaßen sein Leben davon abhing - nicht akut sondern im Nachhinein. Immerhin hörte er mir genau zu.
    »Erschossen? Warum? Ich habe doch keinem was getan!«
    »Die Tätowierung unter deinem Arm hätte gereicht, Mann.

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