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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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zu vermeiden. An jeder zweiten Ecke - wenigstens das stößt auch ihm übel auf - haben Italiener ein Restaurant eröffnet. Daß sie eher zu Köchen als zu Soldaten taugen, haben sie ja 1943 hinlänglich bewiesen. Nur, was wollen die Verräter auf einmal alle hier?
    Beinahe wundert es einen auch nicht mehr, als wir eine Synagoge passieren, die offensichtlich sogar noch besucht wird. Schwer bewaffnete Polizisten bewachen zwar die Tür, aber auch sonst scheint Rassenhygiene keinen mehr groß zu kümmern.
    Deutsche Frauen klammern sich auf offener Straße an fremdländische Männer. Überall orientalische Geschäfte. Ein einziger Basar! Bunte Kinder, zum Teil mit noch bunteren Haaren, lungern an Straßenecken herum und betteln um Geld für sich und ihre Hunde. Alles vermischt sich unkontrolliert. Schmarotzertum und Müßiggang allenthalben. Ganze Divisionen könnte man mit wehrdienstfähigen Drückebergern von der Straße auffüllen, selbst wenn man bei den meisten beide Augen zudrücken müsste, um wenigstens Soldaten artverwandten Blutes zu rekrutieren.
    Der Stadt selbst sieht man die Spuren des langen Krieges dagegen kaum noch an. Bis auf eine Bombenschneise, die wie ein schmaler Streifen Ödland einmal quer hindurch führt und auf die wir deshalb immer wieder stoßen, wurde bereits vieles wieder aufgebaut, oder man ist noch dabei. Alle hundert Meter (mindestens) werden Matratzen verkauft, was auf eine hohe Nachfrage durch Ausgebombte oder Flüchtlinge aus dem Restreich schließen lässt.
    Wie von selbst lenkt Josef seine Schritte immer wieder zurück in den Stadtteil Schöneberg, der einmal seine Heimat war. Einzelne Straßennamen kommen ihm bekannt vor, manchmal auch ein Haus. Die Eisenacher Straße, in der er aufgewachsen ist, finden wir trotzdem erst, nachdem wir mehrmals nach dem Weg gefragt haben. Manche Landsleute sind hilfsbereit. Andere schicken uns absichtlich oder aus Versehen in die falsche Richtung. Unerhört viele, so kommt mir es vor, scheinen nicht mal mehr unsere Sprache zu verstehen - oder wollen es nicht.
    Als wir in seine Straße einbiegen, ist Josef nicht mehr zu bremsen. Im Laufschritt stürmt er an zweifelhaften Gemüseläden und kleinasiatischen Teestuben vorbei, bis er schnaufend an einer Ecke stehen bleibt. Über den Erdgeschoßfenstern steht in geschwungenen Leuchtstoffröhren »Frisör«. Unbeleuchtet sind sie kaum noch zu erkennen, aber es gibt keinen Zweifel: Wir stehen vor dem Geschäft seines Vaters, das einmal seins werden sollte - und was soll ich sagen: Es gibt den Laden noch!
    Aber wie er aussieht! Die schwarze Farbe auf dem schadhaften Putz reicht nur bis knapp unter die erste Etage. Die Fenster im Erdgeschoß sind mit dicken Stahlplatten verschlossen, als hätte man sich für den Straßenkampf gerüstet. Auch die Tür ist aus Stahl und wird von mächtigen Nieten zusammengehalten. Nur eine kleine Klappe und ein Schild daneben erlauben die Vermutung, daß noch nicht für immer geschlossen ist.
    Über der Tür hängt eine bunt gestreifte Flagge schlapp herunter. Es könnten die Farben des Regenbogens sein, doch ganz sicher bin ich nicht - zu lange haben wir keinen mehr gesehen. Ein kleiner Schaukasten wirbt mit Fotos für Frisuren. Offenbar ist man auf Glatzen und Schnurrbärte spezialisiert. Josef erinnert sich zwar an eine Bestimmung des Reichsinnungsverbandes, nach der Männerhaar ab 15 Zentimeter Länge seit 1943 nicht mehr behandelt werden durfte, aber richtig plausibel findet er das beschränkte Angebot trotzdem nicht. Außerdem versteht er das Wort Dresscode neben den Bildern nicht und wieso der Salon nur noch an vier Tagen geöffnet hat. Nächte, verbessere ich ihn, vier Nächte pro Woche: Donnerstag bis Sonntag, steht da - ab 22 Uhr.
    Wie einer, der alles Recht dazu hat, hämmert Josef mit der Faust gegen die Tür. Es dauert ewig, bis das kleine Fenster in der Tür aufgerissen wird und zwei nervöse Augen zwischen Josef und mir hin- und herpendeln. Der Mund dazu bleibt unsichtbar.
    Es tue ihm leid, sagt er, aber Uniform wäre erst wieder am Wochenende. Heute sei normaler Leder-Tag, wie jeden Freitag und natürlich auch erst abends.
    Josef versucht, einen Blick durch den schmalen Schlitz zu erhaschen, und stammelt, er hätte ja nur gedacht...
    Er wisse schon, sagt der unsichtbare Mund, nennt uns Jungs und kommt näher, so daß auch seine Nase zu erkennen ist, in der er einen Ring trägt wie Wilde in der Südsee. Aber den Darkruhm am Nachmittag gäbe es nicht mehr, flüstert

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