Die Nachhut
diesem Platz konnte man wirklich für alles und jeden sein, gemeinsam stark und aufgewühlt.
Wolfs Frau war sofort nach dem Fototermin verschwunden, wegen der Kinder wahrscheinlich, ach Gottchen. Ich arbeitete mich langsam an ihren Platz vor, spürte Schillers Ellenbogen, der das offenbar auch versuchte. Und auf einmal kam mir die ganze Kundgebung genauso verlogen vor. Dieser organisierte Mut gegen rechte Gewalt war wie Flohwalzer auf dem Klavier: Jeder konnte es, keiner genierte sich, nichts leichter als das. Hinterher würden alle zufrieden nach Hause taumeln und schon in der Straßenbahn wieder hartnäckig aus dem Fenster starren, wenn es weiter vorn ein Gerempel mit Fidschis gab oder plötzlich jüdische Nachbarn verschwanden. Und wer Fidschi sagte, meinte das natürlich nie so ...
»Genieße es«, raunte mir Wolf ins Ohr, nachdem ich mich gegen Schiller mit einem bösen Vorgesetztenblick durchgesetzt hatte.
Das Orchester begann mit einem Dissonanzschlag. Dann setzten die tiefen Streicher ein, und schon stoben die Götterfunken nur so nach allen Seiten. Gab es kein anderes Stück Musik als diese ewige Marschmusik für die Seele? Wäre es nicht geradezu mutig gewesen, den vierten Satz aus Beethovens 9. Sinfonie einmal nicht zu spielen? Alle Menschen werden Brüder - wie oft musste die »Ode an die Freude« schon herhalten: Französische Republikaner verehrten ihre Menschlichkeit, deutsche Nationalisten ihre Kraft. Kommunisten träumten dazu von der klassenlosen Gesellschaft. Erich Honecker feierte mit ihr jedes Jahr Silvester, Hitler seine Geburtstage. Und sogar Wolf Jäger strahlte, als wäre er auf einmal auch stolz, ein Landsmann Schillers zu sein, des Dichters natürlich - nicht meines Kollegen.
»Was«, flüsterte ich zurück, »was soll ich genießen?«
»Na die Stimmung. Alles. Die ganze Sache, deine Sache! Hast du dir das nicht immer gewünscht? Jetzt ist der Moment!«
Feuertrunken glühte sein Gesicht, dem Elysium nahe. Schiller hatte Recht - der eine wie der andere, Kerzen oder Fackeln, von der Mode streng geteilt. Und es war tatsächlich mein Moment.
»Entweder ihr sagt mir jetzt auf der Stelle, was es mit dieser Frau aus Wiesbaden wirklich auf sich hat oder ich schmeiße sofort alles hin! Ich habe nirgendwo etwas über eine Jagemann-Tochter gefunden, die sich für alte Nazis starkmacht!«
Damit hatten sie nicht gerechnet. Wolf fuhr sich mit zwei Fingern unter den Hemdkragen und verrenkte seinen Hals. Schiller kontrollierte den Schliff seiner Fingernägel. Beiden war sofort klar: Ich meinte es ernst.
»Das ist eine komplizierte Geschichte, Evelyn«, begann Jäger, »dafür ist jetzt wirklich nicht der Zeitpunkt.«
»Doch. Genau das ist er. Dann mach’s eben kurz!«
Wolf Jäger blinzelte nervös, während sich Chor und Solisten abwechselnd Freude , Freude , Freude an den Kopf warfen. Dann seufzte er und sah sich noch einmal nach allen Seiten um, als stünde das Ansehen Deutschlands mit ihm auf der Tribüne.
»Na gut: Sie heißt Elisabeth von Jagemann und behauptet, seine Schwester zu sein. Ist das kurz genug?«
»Aber dann ...«, mir stockte der Atem, »... dann wäre ja Fritz wirklich ... und sein Vater der Massenmörder ...«
»Moment«, unterbrach er schnell, »darum geht es doch gar nicht! Und bevor du weiterfragst: Ja, nach allem, was wir wissen, stimmt es: Sie ist seine Schwester.«
»Und deshalb haltet ihr sie fest?!«
Schiller verdrehte die Augen. Wolf stieß Luft aus wie ein Gebet. Dann trafen sich ihre Blicke kurz. Der Singsang im Hintergrund gaukelte Schiller vermutlich vor, ihm sei der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein. Er kannte Wolf Jäger eben doch noch nicht lange genug.
»Verstehen Sie doch«, sagte Schiller als hätten wir uns nie geduzt, »die Frau war drauf und dran, den nächsten Skandal ...«
»Ach was - Skandal!« Wolf Jäger fuhr ihm über den Mund. »Viel schlimmer: Noch so ein Ding wie den Bunker würden wir überhaupt nicht mehr in den Griff bekommen. Ausgerechnet jetzt!«
Schiller hatte beschämt die Augen niedergeschlagen.
»Verstehe«, sagte ich, »wenn es den Bunker offiziell nicht gibt, darf es auch keine Überlebenden geben.«
Wolf zögerte, aber ich war trotzdem nicht sicher, ob mein Sarkasmus bei ihm auch so angekommen war. Ich war mir überhaupt nicht mehr sicher, woran ich mit ihm war.
Ja, wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund.
»Aber ihr habt kein Recht, die Frau als Köder zu benutzen. Gegen sie liegt nichts
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