Die Nachhut
grinste frech nach oben, als ich pfiff und Hanka mit zwei Fingern um zwei weitere Minuten bat. Sie lehnte an einem Taxi und schüttelte nur müde den Kopf. Meine Mailbox meldete zehn Anrufe: sechs von Hanka, viermal Schiller; dann brach die Verbindung ab. Das war es also: Der Akku hatte seinen Geist aufgegeben. Mit Schaudern dachte ich daran, wie Schiller mich ansehen würde, wenn er das erfuhr. Erst da fiel mir auch sein Anruf wieder ein: der Bus, die Amerikaner und die Naziknarre.
Im Bad begegnete ich mir kurz im Spiegel und fragte mich, wann die schlaflosen Nächte endlich Spuren hinterlassen würden. Aber nichts: keine einzige neue Falte, weder Augenringe noch eine Strähne Grau zwischen meinen dunklen Locken. War das gut oder schlecht? Tendenziell wohl auch eher schlecht.
Du wirst das vielleicht nicht verstehen, Benny, aber ich habe nie gelernt, mir etwas anmerken zu lassen. Wie auch in einem evangelischen Pfarrhaus, wo die Erziehung vor allem aus Disziplin und Hoffnung bestand: Alles wird gut; der Herr ist dein Hirte; niemand außer ihm kann dir etwas anhaben. Und wenn doch - dann geht das keinen etwas an.
Wenigstens die Verkleidung fiel nun weg, die Hanka mitbringen wollte, Rock und Blazer, ein Albtraum wie das ganze Interview. Ob ich es nicht doch noch absagen konnte?
Hanka saß schon im Auto. Sie hatte Sturm geläutet, beinahe die Polizei gerufen und die Nase voll von mir. Ich auch. Jeder schaute auf seiner Seite aus dem Fenster, während sich das Taxi in den Berliner Verkehr fädelte.
Dreh dich einfach noch mal um, Evelyn, schlaf weiter! Lass sie warten und die Zeit für dich arbeiten. Vielleicht merken sie ja selbst, dass dieser Job nichts für dich ist. Dann musst du es ihnen wenigstens nicht auch noch selber sagen und dann ...
»Vergiss es, Ev! Du kannst jetzt nicht mehr zurück!«
Hanka blätterte wie immer nach Belieben in meiner Seele herum, und ich liebte oder hasste sie dafür, je nachdem.
»Wieso denn nicht? Die können mich alle mal! Du auch!«
Das war ungerecht: Die gute Hanka hatte in den letzten Wochen wirklich genug ausgehalten, das ganze Hin und Her ertragen - und war trotzdem meine beste Freundin geblieben.
»Ich dachte, das hätten wir abgehakt«, sagte sie.
Gar nichts war abgehakt. Wenn ich es nur getan hätte, ein klares Nein, gleich als sie davon anfingen - ohne Bedenken und Bedenkzeit, diese wochenlange Haderei. Eine Polizistin, Chefin der SoRex - bist du denn völlig verrückt? Jede Nacht hatte ich mich endgültig dagegen entschieden und mich anderntags wieder dazu durchgerungen wie ein Nichtschwimmer zu einem Sprung vom Zehn-Meter-Turm. Im Becken tummelten sich lauter fette Krokodile, jede Menge Schillers und Elbers, die nur darauf warteten, so einer wie mir in die unbedarfte Wade zu beißen. War es am Ende Hanka, die von hinten schob?
»Mein Gott«, sagte sie, »es ist nur ein Fernsehtermin!«
Eben, dachte ich, dann wissen es alle. Dann ist es endgültig. Und gerade Hanka musste so reden! Sie hatte es mit ihrer stillen Skepsis nicht unbedingt einfacher gemacht, bei jedem Für und Wider den Kopf gewiegt, aber nicht ein einziges Mal »Mach es!« oder »Lass es!« gesagt. Sie konnte zuhören, aber doch nicht ausgerechnet jetzt eine eigene Meinung haben!
»Reiß dich zusammen«, sagte Hanka, »denk an Wolf!«
Mir war übel. Mit jeder Minute, die der Taxifahrer wettmachte, wurde es schlimmer. Gerade hupte er sich die Busspur in der Leipziger Straße frei. Genau das erwarteten sie von mir: zu spät, überfordert, in Jeans. Wolf auch? Wolf bestimmt nicht. Wenn ich wenigstens das Kostüm anhätte. Oder einen Kaffee im Magen. Enttäuscht wäre Wolf sicher auch, aber das wären sie sowieso alle irgendwann - so oder so.
Zu gern hätte ich einmal das Gegenteil bewiesen, wenigstens ihm. Gestatten: Dr. Evelyn Thorwart, seit Jahren engagiert gegen Rechts, wachsam, pünktlich, verlässlich ...? Gestern hätte ich so einen Auftritt noch aus dem Ärmel geschüttelt. Es hatte also nichts mit dem Kostüm zu tun. Oder doch?
Nur zehn Minuten zu spät kamen wir vor dem Innenministerium an. Hankas Trinkgeld war mir peinlich: Für 80 Cent hatte der Taxifahrer seine Konzession riskiert und an einer roten Ampel seinen Führerschein. Jemand riss die Wagentür auf. Es war mehr ein Befehl als Höflichkeit und genauso schaute der Sicherheitsbeamte auch. Dann führten uns drei von seiner Sorte in das Gebäude. Wir konnten kaum Schritt halten, so schnell ging es an der Detektorschleuse vorbei, durch
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