Die Nachhut
Schritt-Tempo hinterher, bis uns einer der Streifenpolizisten stoppte und nicht näher heranließ. Drei SEK-Leute hangelten sich gerade auf das Dach des Pfarrhauses und blieben über dem Eingang liegen. Zwei Scharfschützen hatten auf dem Kirchturm Stellung bezogen. Ein ganzer Trupp stand mit gezückten Waffen rechts und links der Tür bereit. Der Anführer sagte etwas in sein Funkgerät. Schiller nickte. Dann rammten sie die Tür zum Pfarrhaus auf, warfen eine Blendgranate hinein und verschwanden nach und nach im Nebel.
Minutenlang kaute ich auf meiner Unterlippe, bis die ersten Polizisten wieder auftauchten. Sie hatten den Pfarrer verhaftet, der gestenreich protestierte. Gleich nach ihm führten sie seine Frau hinaus; den dicken Dorfpolizisten mussten sie fast tragen. Zum Schluss erschien ein SEK-Mann mit dem Jungen an der Hand, der sich ebenfalls heftig wehrte und um sich trat.
»Sicherheit!«, brüllten sich die Polizisten gegenseitig zu. Das klang wie Feierabend. Die vier Opas hatten es offenbar geschafft. Schade nur, dass wir eure Gesichter nicht erkennen konnten, das von Schiller vor allem hätte ich gern gesehen.
29. MäRZ/II Hat der Kamerad von der Wochenschau doch tatsächlich die Wahrheit gesagt: Ohne Feindberührung erreichen wir den Rand der Stadt Wittstock und können dem Herrgott nur dafür danken, was wir sehen: Alles ist weitgehend heil. Nach über 60 Jahren Bombenterror stehen immer noch Häuser, sogar ein Gleis haben wir überquert, das glänzte, als ob darauf regelmäßig Züge führen. Ganz in der Nähe rasten wir nun.
Schon auf den letzten Kilometern haben wir die Tarnung sträflich vernachlässigt und einen Sandweg benutzt, weithin sichtbar und aufrecht im offenen Feld. Nach dem Marsch durch die Nacht war es einfach zu anstrengend, nur geduckt durch Gräben zu schleichen oder querfeldein mit Otto. Gott sei Dank nickt er ab und zu ein und befiehlt nicht mehr ständig Deckung, bloß weil am Horizont etwas auftaucht, was wie ein Traktor aussieht. Wir haben ihn mit einem Riemen an die Sessellehne geschnallt, damit er nicht aus der Karre kippt.
Sein rechter Reifen hat kaum noch Luft, genau wie wir. Zuletzt ließ ihn Konrad deshalb einfach unter einem knorrigen Apfelbaum stehen und sich selbst ins Gras fallen. Seitdem starrt er in den Himmel. Und ich glaube, er weint.
Das viele Licht macht allen zu schaffen. Mild strahlt die Sonne und ist doch schmerzhaft hell. Tag und Nacht lassen sich auf einmal nicht mehr befehlen. Zuletzt hatte sich außerdem ein gewisser Schlendrian eingeschlichen, mit manchmal 14 Stunden Schlaf. Das rächt sich nun nach fast 30 Stunden ohne. Trotz Schutzbrille sind meine Augen so schwer wie die Beine, und der ganze Körper erfüllt nur noch mühsam seine Pflicht.
Aber der Geist, Liesbeth, der Kampfgeist beflügelt unsere müden Knochen wie der Frühling das Wintergemüt. Man darf es ruhig zugeben: Gerade in den letzten 20 Jahren wußten wir zuweilen nicht mehr genau, wofür wir unseren Mann standen. Nun haben wir endlich wieder klar vor Augen: Deutsche Bauern bestellen ihre Felder, es riecht nach frischer Heimaterde, die Forsythie blüht. Wüßten wir es nach der ersten Feindberührung nicht besser, könnten das auch Friedenszeiten sein.
Bei dem dicken Kirchturm war sich Konrad schon von weitem sicher, auch die Silhouette der Bischofsburg habe er gleich erkannt: Wittstock, die kleine Stadt in der Nähe seines Heimatdorfes, liegt vor uns in der flachen Landschaft, als sei nichts gewesen. Seine Tränen sind keine Schwäche. Womöglich ginge es mir zu Hause ganz ähnlich.
Jede Woche war er hier vor dem Krieg auf dem Markt. Wie oft hat er davon erzählt! Er und sein Vater, die Kartoffelkönige aus dem kleinen Dorf Seesen. Drei Stunden habe der alte Gaul für eine Fuhre gebraucht, leer zurück natürlich weniger. Als für seinen Vater gleich 39 der Marschbefehl kam, mußte der Älteste allein in die Stadt fahren und all die Jahre konnte Konrad seinen Stolz nie verbergen, schon mit 15 Jahren Herr über Hof und Felder gewesen zu sein, das Fuhrwerk und zwei Fremdarbeiter, wenn auch nicht lange. Im Herbst 1944 mußte er selber los, den gefallenen Vater rächen. Immerhin durfte er vorher noch schnell heiraten, was ihm aber außer beim Sold und einem kurzen Weihnachtsurlaub keinerlei Vorteile gebracht hatte. Im Gegenteil: Anders als wir ledigen Burschen litt er stets an einer konkreten Sehnsucht, die er liebevoll Gretel nannte.
Angeblich hat er ihre Nähe immer gespürt und
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