Die Nachhut
Stadtrand, aber sonst nicht viel außer Beschaulichkeit und Fachwerk. Man brauchte keine Statistik, um zu sehen, dass es weder Arbeit noch Zukunft gab. Auf der Straße waren fast nur alte Leute unterwegs, die ihre Besorgungen anscheinend alle am frühen Nachmittag erledigten. Eigentlich die perfekte Kulisse für unsere vier alten Krieger, dachte ich - nur keine Spur von ihnen.
»Vorfälle. Was denn für Vorfälle?«
Gerd lehnte sich plötzlich nach vorn und drehte am Radio, um einen weiteren Sender mit Nachrichten zu erwischen. Nach zwei übersprungenen Wetterberichten hatte er Glück und der Sprecher des Innenministers wiegelte noch einmal alles ab.
»Was denn«, fragte ich, »er sagt doch immer dasselbe.«
»Ja, aber er spricht ständig von Vorfällen - nicht von dem Vorfall. Als wäre es nicht schon peinlich genug, dass so ein brauner Furz wegen uns dermaßen hochkocht.«
»Bei dem Thema kriegen eben alle sofort Durchfall ...«
Jenny kicherte aufgekratzt.
»Psst«, sagte Gerd und drehte das Radio noch lauter.
»... war in der Nacht auf der A 24 in der Nähe von Wittstock aus noch ungeklärter Ursache von der Fahrbahn abgekommen. Von den Insassen, einer Gruppe amerikanischer Austauschschüler, mussten nach Polizeiangaben 22 leicht verletzt im Krankenhaus behandelt werden. - Berlin. Der Vermittlungsausschuss ...«
»Na und? Irgendein Unfall.« Ich drückte das Radio aus.
»Aber ganz in der Nähe«, raunte Gerd, »und Amerikaner.«
Damals dachte ich, alte Säcke wie er sehen eben überall Gespenster und Zeichen. Heute frage ich mich, wie lange man diesen Job eigentlich machen muss, bis man Dinge wahrnimmt und Zusammenhänge herstellt, für die durchschnittlich sensible Menschen einfach keine Antennen haben. Zu lange, vermutlich.
»A 24«, sagte ich, »da passiert doch ständig was!«
»Da!« Jenny klang plötzlich auch ganz aufgeregt.
»Ja, genau da, immer wieder, jede Woche mindestens ...«
»Nein, da! Dort, an den Schaufenstern!«
Jenny hatte sie zuerst entdeckt. Wie Gänse in einer Reihe marschierten sie auf den Marktplatz zu, allen voran Josef, dann Fritz, und Konrad schob Otto hinterher. Ihre Uniformen schlotterten um die alten Knochen, aber außer uns schien niemand Notiz von ihnen zu nehmen.
Gerd hatte die Kamera schon an der Wange; ich wollte sofort anhalten, doch er bat mich - und er sagte wirklich »bitte« - zunächst langsam an ihnen vorbei zu fahren. Das System aus Einbahnstraßen verlangte dafür eine weitere Runde um den Block. Wir würden sie verlieren, fürchtete ich. Gerd würde nie wieder »bitte« sagen. Jenny stöhnte. Aber sie waren lahm genug. Kurz bevor sie den Markt erreichten, hatten wir sie wieder im Bild.
Unbekümmert überquerten sie die Hauptstraße und scherten sich einen Dreck um die rote Fußgängerampel. Autos bremsten scharf und hupten. Ein Fahrer schimpfte aus dem Fenster und drohte mit der Faust: »Unverschämtes Rentner-Pack!« Auf den ersten Blick störte sich niemand an den Uniformen - was störte, waren drei vertrottelte Fußgänger und ein Rollstuhlfahrer.
Ein wenig unschlüssig blieben sie vor dem schönen alten Backstein-Rathaus stehen. Dann übernahm der lange Fritz den Rollstuhl, und die beiden anderen folgten ihm zaghaft auf den Markt, wo sie sich offensichtlich nicht mehr so sicher fühlten wie im Schatten der Häuser. Zwei Kinder, die an einer Eisdiele anstanden, zeigten bereits mit dem Finger auf sie.
Vor der Sparkasse fand ich eine Lücke im Halteverbot. Wir sprangen aus dem Van, schlichen von hinten um das Rathaus und entdeckten sie in der Mitte des Platzes wieder. Nur halbherzig verborgen zwischen dem Verkaufswagen eines Fleischers und einem Schlafanzughändler aus Vietnam schienen sie zu warten, was passiert, als wäre ihnen völlig klar, dass der Wittstocker Markttag schon ewig keine solche Sensation zu bieten hatte.
Die Kinder von der Eisdiele kamen neugierig näher. Auch immer mehr Erwachsene blieben stehen, bis sich ein weiter Halbkreis um die vier verschüchterten Gestalten gebildet hatte. Als müssten sie dessen Radius verteidigen, schwenkten Konrad und Josef nervös ihre Waffen, aber mehr als 20 Meter Respekt bekamen sie nicht. Ihr Fehler war, zwischendurch immer mal wieder verbindlich zu lächeln. Jemand rief etwas, die Menge johlte. Worum es ging, hörten wir nicht.
»Wir müssen näher ran«, flüsterte Jenny.
»Noch nicht«, sagte Gerd, der auf einen wackligen Papierkorb aus Beton geklettert war, sich mit einer Hand auf meinen
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