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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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damit seine permanenten Ahnungen begründet, unser Objekt könne nicht weit entfernt liegen. Ich habe ihm diese Gefühle nie ausgeredet, aber auch nicht abgenommen. Denn wie alle in der Mannschaft konnte natürlich auch Konrad nicht wissen, wohin man uns bei Nacht und Nebel gebracht hatte - außer in einen Wald westlich von Berlin, lebendig begraben, bis gestern.
    Ein Schluck Kognak aus der Feldflasche hilft uns wieder auf die Beine. Wenig später endet unser Feldweg an einer großen, weißen Halle. Sie muß neu sein, denn Konrad kennt sie nicht. Hinter einem Zaun stehen mehrere Wachhütten aus hellem Holz. Nagelneue Dachziegel und Zaunfelder lagern unter freiem Himmel, Rohre aus Kunststoff und übergroße Pflanzenkübel. Dazwischen schieben Zivilisten Drahtkörbe auf Rädern hin und her. Manche haben Baumaterial geladen. Zwei Kinder spielen Hasche. Ihre Mutter ruft sie zur Ordnung - eindeutig auf Deutsch.
    Vor dem Gebäude parken mindestens 30 dieser kleinen Fahrzeuge, die wir schon von der Autobahn kennen, zwar militärisch in Reih und Glied, aber jedes in einer anderen Farbe. Hat Otto womöglich auf Unsrige geschossen? Neue Eliteeinheiten vielleicht oder Teil des Wunderwaffen-Programms? Ist es ein Materiallager? Pioniere? Schluß mit den Spekulationen!
    Bevor Otto neuen Blödsinn befiehlt, beschließen wir, weiter Richtung Stadt zu marschieren und zwar offen und ohne ihn zu wecken. An Deckung gibt die Straße ohnehin nicht viel her. Vom Feind ist nichts zu sehen. Und ob nun hinter oder vor seinen Linien, besetzt oder nicht - wenn unsere Leute noch ein deutsches Herz haben, dann haben sie auch eins für uns.
    Hinter einer Bahnschranke stoßen wir auf erste Wohnhäuser, manche frisch herausgeputzt, als stünde ein Besuch des Führers bevor. Andere wieder sehen so heruntergekommen und kaputt aus, daß sie einzufallen drohen. Dieser verdammte Krieg!
    Es sind kaum Leute unterwegs. Nur eine uralte Frau kommt uns entgegen, die kurz aufschaut und grußlos weiterläuft. Zumindest scheinen Männer in Uniformen nichts Besonderes zu sein. Konrad flüstert, die Mädels seien auch nicht mehr das, was sie mal waren, grinst unflätig und rempelt mich mit dem Ellbogen in die Seite. Also wirklich - die Frau war mindestens 70! Aber wenigstens ist er wieder auf der Höhe. Wer so derb scherzen kann, sollte auch schieben können! Ich überlasse ihm Ottos Karre. Alle hundert Meter verschnaufen wir sowieso, und ich nutze weiter jede Pause für das Protokoll.
    Rechts und links der Straße zeugen etliche Holzkreuze vom erbitterten Kampf um jeden Meter Heimat. Manche sind mit frischen Blumen, andere mit verwelkten Kränzen oder nassen Teddybären geschmückt. Oft hat man Namen und Daten ins Holz geschnitzt: Vor allem junge Männer leisten immer noch tapfer ihren Blutzoll, die meisten kaum 20 Jahre alt. Offenbar ist es üblich, nur die Vornamen der jungen Helden zu ehren, um ihre Familien vor Terror und Rache der Besatzer zu schützen. Aber was uns am meisten entsetzt: Es sind auch junge Frauen darunter! Sollte der Feind über die vielen Jahre des Krieges dermaßen verroht sein, daß er selbst vor Frauen und halben Kindern nicht zurückschreckt? Oder sind wir selbst schon so ausgeblutet, daß der Volkssturm auf junge Mädchen zurückgreifen muß? Was aber bedeutet dann das scheinbar friedliche Leben der Volksgenossen? Es ergibt keinen Sinn. Ächzt das Land womöglich nur teilweise unter Besatzung? Befinden wir uns nach wie vor im Würgegriff der Fronten oder in der kurzen Atempause einer Waffenruhe? Wir werden es bald - müssen es unbedingt wissen.
    Vor einem unbesetzten Unterstand wacht Otto auf. Er ist zum Teil aus Glas, bietet Platz für mindestens zehn Posten und steht direkt an der Straße. Josef entdeckt wieder diese verschämten Zeichen, wie von Narrenhand in eine Glaswand geritzt. Jemand hat »Sieg Heil« auf eine Bank geschmiert. Darüber hängt ein Schild mit Tabellen und Uhrzeiten. Josef meint, es könnte ein Fahrplan sein. Auf jeden Fall ist es kein Russisch.
    Während sich Otto über die letzte Stunde Bericht erstatten lässt, schiebt eine Frau ihr Fahrrad näher. Die Einkaufstaschen am Lenker sind voll. Sie ist kaum jünger als ihre Vorgängerin, aber schaut uns genauso komisch an wie die Leute in Gossow. Es ist eine Mischung aus Befremden und Gleichgültigkeit, Sympathie fühlt sich anders an.
    Heute fahre nichts mehr, sagt sie beiläufig und ist fast schon vorüber, als ihr Josef beherzt in den Lenker greift.
    Was fahre heute

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