Die Nachhut
nicht mehr, fragt er und nennt sie, etwas übertrieben für meinen Geschmack, junge Frau.
Sie schüttelt verständnislos den Kopf: Der Bus natürlich, der komme nur noch einmal täglich. Dann beginnt sie zu keifen und rüttelt am Lenker, bis Josef aufgibt: Eine Unverschämtheit sei das, schimpft sie und lässt uns ratlos stehen. Meint sie damit uns oder den Bus? Und einmal täglich - ist das zu wenig? Offenbar gibt es sogar wieder Kraftstoff für zivile Personentransporte. Manche Volksgenossen sind aber auch nie zufrieden!
Je tiefer wir in die kleine Stadt vorstoßen, desto deutlicher zeigt der lange Krieg dann doch seine Spuren: Die Straßen sind voller Schlaglöcher. Blinde Schaufensterscheiben erinnern an Geschäfte, die es nicht mehr gibt. Junge Menschen begegnen uns kaum, vermutlich sind sie alle im Feld. Derweil treibt der Wucher sein Schindluder mit der Not.
Die beiden einzigen Läden, die noch Ware anbieten, verlangen ungeheuerliche Preise, zwei Pfund Äpfel zum Beispiel für 2,99! Der Gemüsehändler, ein Volksschädling mit orientalischem Einschlag, steht zwischen seiner Auslage und drückt sich wahrscheinlich mit einem Sprachfehler vor der Front.
Siehst du blaß aus, sagt er, brauchen Vitamine.
Als Konrad sich einfach einen Apfel nimmt, klappt ihm das feiste Doppelkinn herunter, dann starrt er ängstlich auf unsere Waffen. Sicher hat er ein schlechtes Gewissen. Wir haben ihn ertappt. Aber muß er deshalb gleich zwei Stiegen Äpfel umreißen und mit hochrotem Kopf in seinen Laden flüchten?
Wir schauen uns reihum an. Vielleicht liegt es doch an den Schutzbrillen, daß wir auf die Leute so verwegen wirken. Im Schatten der Häuser probieren wir es erstmals ohne sie.
Nach einer knappen Stunde in Wittstock hatten wir begriffen, dass die Stadt im Wesentlichen aus einer einzigen Einbahnstraße bestand, die einen immer im Kreis um den Marktplatz führte. Busch ließ mich fahren und so kannte ich mich zwischen der fast lückenlos erhaltenen Stadtmauer schnell aus wie in meiner Plattensammlung. Überhaupt fühlte ich mich ziemlich obenauf, weil die ersten Bilder aus Gossow bereits auf Kanal 5 liefen. Wir hatten die Bänder ungeschnitten einem Kurier anvertraut. Unsere Nachrichtenredakteure hatten daraus zunächst einen kurzen Beitrag über die rätselhafte Geiselnahme gemacht, den wir kurz nach zwölf auf Gerds kleinem Autofernseher im Mittagsmagazin sahen. Von meinen O-Tönen aus dem Pfarrhaus hatten sie keinen einzigen verwendet und für Gerd war sicher, dass ihnen mein Interview zu wirr und verwackelt war. Ich lachte ihn aus: Bestimmt hätten sie sich das Beste nur noch aufgehoben. Gerade bei exklusiven Geschichten spielt man nie alle Trümpfe gleich aus, um später nachlegen zu können. Vielleicht sei auch einfach zu wenig Zeit zur Bearbeitung gewesen, meinte Jenny, was ich auch ziemlich plausibel fand.
Schneller als erwartet sprang die Nachrichtenmaschine an, erst mit vorsichtigen Meldungen im Radio, in denen es noch »soll« und »heißt es« hieß. Wenig später war aus der »mutmaßlichen Geiselnahme« schon das »Geiseldrama von Gossow« geworden und Jenny und ich klatschten uns bei jeder neuen Meldung ab wie Basketballer nach einem Korb.
So fing es immer an. Garantiert war die Meute schon unterwegs, auch wenn noch keine Behörde zu irgendeiner konkreten Stellungnahme bereit war. Bald würde es in Wittstock und Umgebung von Fernseh- und Zeitungsreportern nur so wimmeln. Seit Mittag lungerte je ein Kamerateam von Kanal 5 vor dem Bundesinnenministerium und dem BKA herum. Ab und zu, so wurde uns am Telefon berichtet, fuhren zwar Limousinen zwischen den Ämtern hin und her, und wenn man es so sehen wollte, sah das von außen nach Hektik aus, aber an den Pressesprechern perlten alles ab: Man sei natürlich über die Vorfälle informiert, prüfe und ermittle, könne aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder etwas dementieren noch bestätigen. Im Übrigen, so endete das einzige offizielle Statement im Radio stets, gehe man vorerst von einem geschmacklosen Scherz aus.
»Meine Rede«, sagte Gerd und tat weiter so, als ginge ihn der ganze Quatsch nichts an. Dennoch erwischte ich ihn im Rückspiegel immer wieder dabei, wie er die Augen offen hielt und die Querstraßen absuchte.
Mindestens zehnmal hatten wir die kleine Altstadt schon umrundet, fünf Apotheken gezählt, drei Tankstellen und zwei Bäcker. Wie überall in Ostdeutschland gab es eine protzig renovierte Sparkasse, ein paar Plattenbauten am
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