Die Nachhut
Amis, das internationale Ansehen und so weiter - ohne den Aufwand, den wir hier betreiben, wäre es längst wieder ruhig um die Pappkameraden. Oder sie hätten sich gestellt! Angriff, Front - dass ich nicht lache. Du bist es, der redet wie im Krieg!«
»Es ist Krieg, Evelyn ...«
»... ja klar, und Klassenkampf auch, ich weiß schon! Mensch Wolf, ihr lasst mich hier draußen auflaufen wie eine blöde Lasagne - vor den Kollegen genauso wie in der Öffentlichkeit. Und zu Hause verhungert mein Kater.«
»Der gute alte Ephraim. Lebt der etwa immer noch?«
Ich funkelte ihn wütend an.
»Entschuldige! Das mit dem Verfassungsschutz tut mir leid. Aber anders ging es nicht. Du musst verstehen, dass wir...«
»... ich muss immer alles verstehen! Ich habe das mit deiner Frau verstanden, ich verstehe, dass du ...«
»Eva, vermisch das nicht!«
Das war gemein. Nicht weil er sich mit der Trennung von Dienst und Privatleben aus der Affäre zog, daran war mir selbst nur gelegen. Auch sein herablassender Ton störte mich kaum. Aber dass er meinen richtigen Namen ins Spiel brachte, war mehr als unfair. Damit hatten sie mich schon in der Schule geärgert: Adam und Eva. Adolf und Eva! Eva Herman und die ganzen deutschen Erbsünden. Seit ich 14 war, wollte ich nur noch Evelyn sein. Deshalb war ich Evelyn. Niemand kannte mich anders, nicht mal Hanka. Ihm hatte ich es irgendwann mal anvertraut, auch den Grund. Und so, wie Wolf lächelte, hatte er diese Nadel sicher gezielt gesetzt.
»Ich habe es nie jemandem verraten«, sagte er und hob zwei Finger zum Schwur, »wirklich! Und jetzt werde ich dir auch mal ein Geheimnis anvertrauen, wenn ich darf? Darf ich?«
Misstrauisch sah ich ihn an und zuckte unsicher mit den Schultern: Sollte das ein Geschäft werden, wieder irgend so ein Deal? Er interpretierte mein skeptisches Schweigen als Ja.
»Also gut: Wie fange ich am besten an? Am Wochenende haben wir doch diesen Riesenrummel in Berlin. Du weißt schon: die neue Ausstellung, Wehrmachtsverbrechen, Demos und so weiter, dazu auch noch diesen internationalen Historikerkongress.«
»Schon klar, Wolf, das Ansehen Deutschlands: Bis dahin sollen sie verschwunden sein. Wir tun ja unser Bestes!«
»Warte, langsam. Da ist noch mehr, was du wissen musst.«
Endlich, dachte ich, gleich würde er zugeben, wie sehr er mich vermisst hat, dass auch er es bereue und so weiter ...
»Kennst du die UN-Charta«, fragte er stattdessen und ignorierte mein beleidigtes Gesicht, »ich meine - die ganze?«
»Was soll das denn? Natürlich nicht auswendig.«
»Aber ich«, sagte er, »Artikel 107 zum Beispiel geht so: Maßnahmen, welche Regierungen als Folge des Zweiten Weltkriegs in Bezug auf einen Staat ergreifen oder genehmigen, der während des Krieges Feind eines Unterzeichnerstaates dieser Charta war, werden durch diese Charta weder außer Kraft gesetzt noch untersagt.«
Er machte eine Pause und schaute mich erwartungsvoll an.
»Ja, und weiter?«
»Nichts weiter! Wir waren so ein Feind und sind es noch. Oder Artikel 53, hör genau zu: Ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates dürfen Zwangsmaßnahmen - und so weiter - nicht ergriffen werden. Und jetzt kommt’s: Ausgenommen Maßnahmen gegen einen Feindstaat im Sinne von 107 oder Absatz 2. Und in Absatz 2 dann gleich noch einmal: Der Ausdruck Feindstaat bezeichnet jeden Staat, der während des Zweiten Weltkriegs Feind eines Unterzeichners dieser Charta war. Zitat Ende.«
Ich hatte versucht, mich auf jedes Wort zu konzentrieren und mir gleichzeitig nicht ansehen zu lassen, dass dies gar nicht so einfach war. Er aber zog eine abgewetzte Broschüre aus seiner Aktenmappe und warf sie mir in den Schoß.
»Lies es nach! Du kannst es mir aber auch einfach glauben: Nach diesen so genannten Feindstaatenklauseln sind wir rechtloser als jeder Schurkenstaat heutzutage. Alle ehemaligen Feinde können jederzeit gegen uns vorgehen, deutsches Vermögen im Ausland beschlagnahmen, einfach das Feuer eröffnen. Der kleinste Anlass reicht, sie wären im Recht, gedeckt von der UN-Charta. Und genau da kommen deine, wie du glaubst, harmlosen Opas ins Spiel...«
»Moment mal: Aber wir sind doch vollwertiges UN-Mitglied, sowohl DDR als auch BRD waren es ... und jetzt erst recht...«
Wolf schüttelte ungeduldig mit dem Kopf: »Von wegen! Wir erklären nur auf fast jeder Generalversammlung, dass die Klauseln nicht länger anwendbar seien. Aber das juckt keinen, niemand ändert deshalb die Charta. Dafür müssten zwei Drittel
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