Die Nachhut
»arbeitet gelegentlich für unser Ministerium als psychiatrischer Sachverständiger.«
»Aber wir brauchen keinen Psychiater!« So dachte ich damals wirklich noch. »Wo kommt der überhaupt auf einmal her?«
Es stellte sich heraus, dass Dr. Worch von Anfang an zu unserem Tross gehört hatte. Schiller versuchte mir weiszumachen, dass jede Aussage von offensichtlich Verrückten ohne ärztliche Begutachtung wertlos sei. Doch so viel Ahnung hatte sogar ich inzwischen von Polizeiarbeit: Das war nicht mal die halbe Wahrheit.
Worch erklärte, er müsse den Patienten sofort stationär aufnehmen. Offenbar hatte das seine Pulsdiagnose ergeben. Alle meine Einwände verwies er lässig an die Bundesanwaltschaft. Ich könne mich natürlich auch im Außenministerium beschweren, fügte er süffisant hinzu. Worauf er sich verlassen konnte!
Aber so schnell, wie sie meinen einzigen Zeugen einluden, bekam selbst ich Wolf Jäger nicht ans Telefon. Immerhin habt ihr euch sofort an den Krankenwagen gehängt, was einerseits schade war, weil ich ganz und gar nichts gegen ein schnelles Wiedersehen mit dir hatte - aber auch beruhigend. So musste ich dir nach meiner wirklich endgültig letzten, unverzeihlichen abschließenden Nacht mit Wolf wenigstens nicht in die Augen sehen. Und wenn du deshalb beleidigt gewesen wärst, hätte ich notfalls sogar Busch gefragt, wohin man Böttcher gebracht hatte. Schiller schien das schon gar nicht mehr zu interessieren.
»Der läuft uns nicht weg«, sagte Kondor 1 nur und fand das offenbar lustig. » Und die anderen haben wir auch bald.«
1. April 2004 Jetzt sind wir nur noch zu zweit, der Jude und ich. Und eins scheint auch klar: Man ist immer noch hinter uns her, wahrscheinlich sogar speziell hinter uns, denn der Überfall an der Tankstelle kann nur eine Falle gewesen sein.
Ich hatte gleich kein gutes Gefühl bei diesem schmierigen Krämer und dieser merkwürdigen Veranstaltung auch nicht, bei der am Ende noch der letzte Pöbel mit uns anstoßen wollte. Meine Rede hatte - bei aller Bescheidenheit - zwar eingeschlagen wie eine V1, doch zum Schluß waren alle betrunken und redeten wirres Zeug: über »vorübergehend besetzte Ostgebiete« oder »Jahrzehnte der Fremdherrschaft« zum Beispiel, aber auch über »alliierte Besatzer«, die sich angeblich kampflos zurückgezogen hätten. Teilweise entlarvte sich derlei Unsinn in den Widersprüchen, die sie uns auftischten, selbst. So soll Berlin derzeit nicht mal besonders schwer umkämpft sein. Trotzdem entließ man uns nur mit eindringlichen Warnungen, wir würden nicht lebend in der Reichshauptstadt ankommen. Der Scheunenbesitzer hatte immerhin auch ein paar Schlafplätze im Angebot und (für Ottos Ehrendolch) versprochen, uns am nächsten Tag mit dem Motorrad zu einer Tankstelle zu fahren. Als wir dort die vielen Landser sahen, war es schon zu spät.
Sie trugen neue Uniformen, nickten kameradschaftlich, aber machten keinen Finger krumm, als der Feind zuschlug. Vielleicht lag es an der Truppenverpflegung, die wahrlich eine Katastrophe ist. Nachträglich fällt mir aber auch ein, daß alle unbewaffnet waren, womöglich Kriegsgefangene. Dann würde auch der Fraß einen Sinn ergeben. Und Otto gehört nun auch dazu.
Wahrscheinlich habe ich mich oft und bitter über ihn beklagt. Jetzt trauere ich um ihn wie um einen gefallenen Kameraden. Gerade seine störrische Art hat uns lange zusammengeschweißt. Wegen ihm (und zum Schutz vor ihm) waren wir aufeinander angewiesen. Seine Befehle, ob wir sie befolgten oder nicht, haben aus unserem Haufen erst eine funktionierende Einheit gemacht. Seit er weg ist, gibt es nur noch Streit.
Josef lehnt es strikt ab, wegen Otto noch mal umzukehren und hat damit vermutlich sogar Recht. Gegen diese Übermacht könnten wir zu zweit wenig ausrichten. Aber mal auf Ehre und Gewissen: Hätten wir es nicht trotzdem versuchen müssen?
Nicht mal auf einen groben Plan können wir zwei uns einigen. Josef meint, wir sollten weiter über Land fahren. In der Stadt würde man uns gnadenlos aufreiben, dazu die Kollaboration allenthalben ... Ich dagegen glaube, wir hatten bisher einfach nur Pech, falsche Erwartungen und haben über all die Jahre im Bunker manches idealisiert. Von wegen oben sei das Paradies, Platon lässt grüßen. Ja, ich sehne mich im Moment sogar zurück nach der Stille und Gleichförmigkeit der Tage in DB 10. Ist das feige?
Leider hat unser Gespann erheblich gelitten. Das Vorderrad eiert und schleift, das am Beiwagen hat
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