Die Nachhut
Geräusch. Man kann sich dann einbilden, man sei unterwegs. Auf einem Schiff, einer Reise irgendwohin, jedenfalls noch am Leben.
Ist das nicht merkwürdig? An alles haben wir gedacht, nur nicht daran, daß der Krieg ein paar Jahre länger dauern könnte. So gesehen ist es vielleicht nicht mal Zufall, daß uns die richtigen Formulare langsam ausgehen. Die meisten Vordrucke rechneten nicht einmal mit 1950, sondern enden im Datum mit »194...« Für den Tagesbefehl benutzen wir derzeit das Meldeformular VII/16 (»Geschlechtskrankheiten in den Siedlungsgebieten Ost«). Selbst die beinahe zeitlosen Urlaubsscheine, bei denen die letzten beiden Stellen frei sind, werden bald ihre Aktualität verlieren. »19...« steht da noch - aber gar nicht mehr lange, und wir schreiben vorn eine ungeheuerliche Zwei. Nur die Protokollkladden für die Luftbeobachtung hat man ausgerechnet in einem Bunker zu hunderten eingelagert, und ich habe sie mir vorsorglich alle unter den Nagel gerissen.
Weißt Du noch, wie wir mal unser Alter im Jahr 2000 ausgerechnet haben? Ich weiß es noch genau: Du hast schon damals mit dem Kopf geschüttelt. Ich aber wollte mir auch diese Zahlen vorstellen. Ich wollte mit Dir so alt werden! Ob der Bunker dabei Glück war oder Pech, ist schon wieder so ein Gedanke, den ich mir vorsichtshalber sofort verbiete. Bisher haben wir nur Zeit totgeschlagen. Dafür gibt es zwar keine Orden, aber gegen die Aufgaben an der Ostfront ist das vielleicht gar kein schlechter Auftrag.
Was denkst Du? Bin ich schon tot? Gefallen, weil keine Post mehr kommt, kein Urlauber vor Deiner Tür steht, kein Held, der endlich heimkehrt. Bin ich schon gestorben für Dich? Das vor allem frage ich mich an meinem Geburtstag und wünsche nichts sehnlicher, als daß du immer noch wartest - auf Deinen Fritz.
WOHER dieser Tipp schon wieder kam, wollte ich gar nicht genauer wissen. Schiller hatte nur lapidar von einem V-Mann gesprochen und dirigierte nun ein Großaufgebot aus Zivilpolizei und Bundeswehr über eine Autobahnraststätte, als müssten wir jetzt auch schon jede McDonalds-Filiale vor Terroristen schützen.
Anstatt gleich gestern auf der Veranstaltung zuzuschlagen, konnten wir an diesem Vormittag nur noch hoffen, dass der zwielichtige V-Mann nicht zu viel versprochen hatte. Denn warum sollten sie ausgerechnet hier Rast machen? Wieso hatte er nur von drei Zielpersonen gesprochen? Was versprach sich Schiller außerdem von den Lockvögeln der Bundeswehr, die Wolf Jäger »organisiert« hatte? All das fragte ich lieber nicht, sondern ertrug still den Gestank von Frittieröl.
Es war laut und heiß. Nie zuvor hatte ich mich in einer Fastfood-Küche versteckt, aber wie immer seit Kindertagen musste ich sofort aufs Klo, sobald es »Eins, Zwei, Drei, Vier Eckstein« hieß. Unsere Zivil-Kollegen fraßen unterdessen einen Hamburger nach dem anderen. Auch den Bundeswehrleuten schien es nichts auszumachen, sich immer wieder hinten anzustellen.
Durch das kleine Fenster, an dem sonst die Kunden gleich im Auto bedient wurden, konnten wir nur einen Teil des Parkplatzes überblicken. Schiller hatte deshalb die Überwachungsbilder der Tankstellenkameras auf zwei Monitore umleiten lassen. Echte und falsche Zivilisten konnte man nur an den Kindern unterscheiden, die mir die meisten Sorgen machten.
»Wir hätten die Raststätte ganz sperren müssen. Das ist doch alles viel zu gefährlich!«
»Aha«, sagte Schiller, »und wie soll dann eine Falle funktionieren, wenn niemand reindarf?«
Das musste ich einsehen und ärgerte mich trotzdem. Immerhin trug ich die Verantwortung für den ganzen Zirkus, den Schiller hier veranstaltete. »Kondor 1« nannte er sich am Funkgerät und holte von seinen Spähposten Kondor 11 bis 15 ständig neue Meldungen ein, die unverschlüsselt so viel bedeuteten wie »nein, noch nichts.« Kleine Jungs mit teuren Spielzeugen, dachte ich, während meine Sachen den fettigen Gestank aufsogen wie eine Abzugshaube. Nachdem etwa hundert Beamte zwei Stunden lang mit kalten Pommes ihren Ketchup umgerührt hatten, tauchten sie tatsächlich auf.
Ein Pick-Up in Tarnfarben hielt an der Tankstelle. Hinter den verdunkelten Scheiben war nichts zu erkennen, aber Kondor 1 funkte trotzdem ein aufgeregtes »Achtung« an alle - »das sind sie!«
Der Fahrer stieg aus, wuchtete eine Rampe von der Ladefläche und sah sich ängstlich nach allen Seiten um, als wüsste auch er Bescheid. Er trug eine Glatze und eine Art Kampfanzug in den gleichen fleckigen
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