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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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die nicht weiß, was sie sonst tun soll, nähert sich der Frau.
Sie berührt sie leicht am Ellbogen.
    Mrs. Edwards zuckt zurück, als hätte sie sich verbrannt.
    Sydney sucht in einem der oberen Badezimmer Zuflucht. Sie geht zum
Fenster, zieht die Vorhänge auf und schaut zum Sumpfland hinaus, moosgrün und rostbraun
im Nachmittagslicht. Das Wasser hat tiefe Gräben im Morast hinterlassen. Ein Schwarm
Vögel steigt auf, eine Flugschau über den Gräsern. Die Vögel wechseln von grau geflügelt
zu Weiß und wieder zurück, während sie in perfekter Formation Achten fliegen. Sie
tun es zum Spaß, denkt sie.
    Im Norden steht auf einem Hügel ein Haus, dessen weiße Fassade leuchtet.
Sydney entdeckt einen Fuchs. Hin und wieder hört sie ein Auto, ohne es zu sehen.
Die ganze Straße entlang bilden Strandrosenbüsche und irgendein anderes Gewächs
eine beinahe undurchdringliche Mauer. Von ihrem Fenster aus kann Sydney in den Garten
des Nachbarhauses sehen. Ein schlankes Boot wartet im blauen Plastikfutteral auf
den Sommer. Die Läden an den Fenstern des Hauses sind geschlossen.
    Der Krämerladen und das Hummerrestaurant drüben, auf der anderen Seite
des Sumpflands, haben zu. Ein paar Fischer, die für heute Schluss machen, kehren
zurück, aber sie werden ihren Fang schon anderswo verkauft haben, vielleicht in
Portsmouth. An manchen Stellen spiegelt das seichte Wasser das Licht, an anderen
ist es gekräuselt.
    Sydney streicht über den weißen Vorhang. Der automobilinteressierte Geistliche
hat dieses Bad benutzt. Art und Wendy ebenfalls. Sydney sieht eine Lampe in Form
einer altmodischen Autohupe vor sich. Im Lauf der Jahre haben in diesem Haus vielleicht
Hunderte von Gästen Aufnahme gefunden. Haben die Nonnen Besuch bekommen? Die ledigen
Mütter? Sind Eltern hierhergekommen und haben ihre jungen Töchter gescholten und
dann an ihrem Bett geweint? Haben die Gewerkschaftler vielleicht überhaupt nicht
auf die Schönheit des Sumpflands geachtet, weil sie nur an Rauchzeichen aus den
Fabriken jenseits davon interessiert waren?
    Sydney denkt über Mrs. Edwards’ Geständnis nach. Ein Todesfall, ihr
Schmerz sind Mrs. Edwards’ Freibrief. Jetzt wird es keine großen Abendessen mehr
geben. Sydney muss an das schmale Doppelbett im Elternschlafzimmer denken, an das
Foto auf Mr. Edwards’ Schreibtisch. Sydney wird niemals wissen, wie viel Liebe,
körperlicher oder anderer Natur, zwischen Mann und Frau war.
    Mrs. Edwards ist jetzt Witwe. Endlich, denkt Sydney ironisch, haben
wir etwas gemeinsam.
    Es klopft.
    »Ja?«, ruft Sydney.
    »Alles in Ordnung?« Es ist Bens Stimme. »Sie sind seit einer Ewigkeit
da drinnen.«
    »Alles in Ordnung«, antwortet sie. »Ich komme gleich.«
    Sie wäscht sich die Hände, trocknet sie ab und öffnet die Tür. Ben steht
im Flur, mit zwei Sweatshirts in den Händen.
    »Haben Sie Lust auf einen Ausflug?«, fragt er.

 
    AUFGEFORDERT, DIE VERWASCHENEN marineblauen Sweatshirts zu halten, fragt sich Sydney, wozu sie die eigentlich brauchen.
Sie gehen zu einem Jetta, der hinter dem Haus geparkt ist.
    »Wo ist der Land Rover?«, fragt sie.
    »Verkauft«, antwortet Ben.
    Sie setzt sich vorn neben ihn und schließt die Tür. Sollte sie Bedenken
haben vor diesem Ausflug allein mit Ben, einem Mann, mit dem sie sich nie wohlgefühlt
hat? Aber der Moment geht vorbei. Der Mann hat gerade seinen Vater verloren, denkt
sich Sydney. Ist jetzt nicht alles ein wenig anders?
    Ohne viel zu reden, fahren sie die Straße am Strand entlang in den Ort,
beide von reger Geschäftigkeit und Verlassenheit zugleich gekennzeichnet. Die Geschäftigkeit
zeigt sich in den Baugerüsten am Strand, die Verlassenheit in den geschlossenen
Fensterläden der Häuser im Ort. Nur vor der Post steht ein Fahrzeug.
    Ben sagt: »Es kann passieren, dass Ihre Hose unten nass wird. Wäre das
schlimm?«
    Nein, antwortet Sydney, das macht nichts. Während Ben den Motor der Whaler
anlässt, denkt sie bei sich, dass ihre Kleidung und ihr Aussehen sie schon seit
Stunden nicht mehr kümmern.
    Sie zieht den Reißverschluss des Sweatshirts hoch und setzt sich auf
den Angelkasten.
    Das Blau über dem Ozean ist nach einem langen, heißen Sommer gründlich
gereinigt und gespült. Der salzige Wind scheint von reinem Sauerstoff gesättigt.
Der Motor kämpft angestrengt gegen die Strömung. Es ist unmöglich, mit Ben zu sprechen,
der hinter ihr am Steuerrad steht. Vielleicht hat er vor, um die Landspitze herumzufahren
und einen letzten Blick auf das Sommerhaus

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