Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Rot. Ein Mann in Badehose hält ihr ausgebreitet
ein grell pinkfarbenes Tuch hin.
»Ich wurde mit dem Badetuch hergeschickt. Sie sind Sydney, richtig?«
Ein Wunder, wenn sie es nicht wäre. Es ist sonst weit und breit kein
Mensch im Wasser.
Die Einrichtung im Haus ist weiß, theoretisch ein guter Gedanke,
praktisch nicht. Auf den Schonbezügen der Sofas sind schwache Schmutzflecken und
abgewetzte Stellen zu erkennen, dunkelblaue Fussel von einem Wollpullover. Immer
wieder von feinen Sandkörnchen zerkratzt, wirkt der Ahornboden wie gescheuert.
Auf der Treppe zum Keller steht ein Korb mit alten Zeitungen, er dient
als Auffangbehälter für alles, was nicht zum neutralen Dekor passt, sich aber noch
als nützlich erweisen könnte. Eine violette Hundeleine. Ein Haftnotizblock in Neonpink.
Eine Schwimmweste in Signalorange. Ob praktischer Alltag oder Sport, unnatürliche
Farben überall.
Auch wenn Mrs. Edwards so tut, als bewohnten sie das Haus seit Jahrzehnten,
vielleicht sogar Generationen (es gibt bereits Familienrituale, häufig wiedererzählte
Erinnerungen, schwere alte Einmachgläser voll vom Meer geschliffener Glasscherben,
die als Türstopper dienen), gehört das Haus ihnen erst seit 1997. Vorher,
sagt Mr. Edwards ganz ehrlich, haben sie einfach andere Sommerhäuser in der Umgebung
gemietet. Im Gegensatz zu seiner Frau scheint Mr. Edwards ganz ohne Falsch zu sein.
Sydney teilt sich ein Badezimmer mit den Gästen, einem Paar aus New York,
das auf der Suche nach Antiquitäten hergekommen ist. Morgens sind blassblaue Zahnpastareste
im Waschbecken und rosa Make-up-Flecken auf dem Spiegel. Gebrauchte Kosmetiktücher
klemmen zusammengeknüllt hinter den Wasserhähnen. Sydney hat es sich angewöhnt,
das Waschbecken mit einem Handtuch auszuwischen, bevor sie es benutzt. Auf dem Rückweg
in ihr Zimmer stopft sie das Handtuch in den Korb für die schmutzige Wäsche im Flur.
Sydney hat sofort erkannt, dass Julie, die achtzehnjährige Tochter
der Edwards, Lernschwierigkeiten hat und dass auch der beste Nachhilfeunterricht
nicht ausreichen wird, sie für das glänzende letzte Highschool-Jahr zu präparieren,
auf das Mrs. Edwards hofft; dass dieses Jahr für das junge Mädchen vielmehr beinahe
mit Sicherheit vernichtend sein wird. Mrs. Edwards spricht kenntnisreich von Mount
Holyoke und Swarthmore. Skidmore zur Not. Sydney kann nur staunen. Julie ist ein
fügsames Kind, bemüht zu gefallen und außergewöhnlich schön, mit klarer rosiger
Haut und Augen von der Farbe blauen, vom Meer geschliffenen Glases. Sydney sieht
klar voraus, dass das junge Mädchen, das bereit scheint, von früh bis abends zu
lernen, ihre Mutter enttäuschen und ihrem Vater tiefen Schmerz bereiten wird. Das
Letztere nicht etwa deshalb, weil sie die Aufnahme in die Colleges, über die Mrs. Edwards
so viel zu wissen scheint, nicht schaffen wird, sondern weil sie trotz ihres so
harten Bemühens scheitern wird.
Salz verkrustet die Fenster des Hauses in diagonalen Streifen, als wäre
Wasser ans Glas gekippt worden. Die Fenster zur Veranda müssen zweimal die Woche
geputzt werden, damit man den spektakulären Blick würdigen kann, den sie bieten.
Sydney spürt manchmal, dass ihre Anwesenheit die Familienbalance stört.
Sie bemüht sich, verfügbar zu sein, wann immer sie gebraucht wird, präsent, aber
zurückhaltend, wenn nicht.
Die Brüder werden in einem Raum schlafen, der das Jungszimmer genannt
wird. Julie hat ein Zimmer auf der Seeseite des Hauses. Mr. und Mrs. Edwards’ Schlafzimmer
blickt zum Sumpfgebiet hinaus. Den Gästen wurde, wie Sydney, ein Zimmer mit zwei
Betten zugewiesen.
Mr. und Mrs. Edwards haben Sydney gebeten, sie bei ihren Vornamen zu
nennen. Aber wenn sie versucht, Anna oder Mark zu sagen, bleiben ihr die Wörter im Halse stecken. Sie
findet andere Möglichkeiten, von dem Paar zu sprechen, sie sagt etwa, Ihr Mann oder er oder dein Vater .
Sydneys erster Mann war Rennpilot. Er flog mit 250 Meilen pro
Stunde unter Bäumen hindurch und führte auf einem Einmeilenkurs akrobatische Bravourstücke
vor. Er brauchte nur einen Pylonen zu streifen oder einen Wimpernschlag lang die
Orientierung zu verlieren, und seine Maschine wäre abgestürzt. Wenn es ihr möglich
war, begleitete Sydney Andrew zu diesen Rennen – nach Schottland, Wien, San Francisco – und schaute zu, wie er seine Maschine in der Luft um 420 Grad pro Sekunde kreiseln
ließ. Bei Flugschauen war Andrew ein Star und schrieb Autogramme. Er trug feuersichere
Kleidung und
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