Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
zu werfen, bevor es seiner Familie nicht
mehr gehört. Sie versteht diesen Impuls, versteht aber nicht, warum er sie auf diese
Fahrt mitnehmen wollte. Vielleicht hat er seine Mutter gehört und möchte nur freundlich
sein.
Aber als sie durch die Meerenge hindurch sind, steuert Ben nach Westen
statt nach Osten. Sydney hat keine Ahnung, welches Ziel er hat. Der Wind streicht
ihr Haar glatt nach hinten. Die Whaler legt Tempo zu, schlägt gegen die kabbeligen
Wellen. Sie bemerkt, dass die weißen Polster sich an manchen Stellen rosa verfärbt
haben, das abgenutzte Deck ist schmutzig. Das ganze Boot wirkt unordentlich: ein
zusammengeknülltes T-Shirt im Bug; ein unaufgerolltes Tau auf der Konsole; eine
Angelrute ohne Futteral, von der der Haken herabbaumelt.
Sie umrunden ein Kap, das sie nie gesehen hat. Sie fahren, wie ihr scheint,
ziemlich weit, und Sydney bekommt langsam Zweifel, dass es klug war, Bens Einladung
anzunehmen. Sie fragt sich auch, ob sie nicht einen ihrer Kollegen hätte anrufen
sollen: Werden die sich keine Sorgen um sie machen?
Die Whaler folgt einer Küstenlinie, die Sydney fremd ist. Sie bemerkt
Inseln, Hummerbojen, ein Fischerboot, das in den Hafen einläuft. Gleichzeitig verspürt
sie ein ungewöhnliches Gefühl von Freiheit, als wären sie dem Dorf glücklich entronnen,
nun, da sie schnell die Küste entlangfahren.
Ben drosselt den Motor. Vor ihnen liegt eine Insel, auf der drei oder
vier kleine Häuser stehen. Er schaltet den Motor aus und lässt die Whaler treiben.
Aufmerksam prüft er die Wassertiefe. Auch sie beugt sich über die Seite und sieht
unter ihnen ein endloses Bett von Muscheln, dunklen Muscheln mit perlenähnlichen
Spiralen dazwischen. Sie wünscht, sie könnte hinunterlangen und sie berühren.
Sie treiben weiter, bis nur noch Sand unter dem Boot ist, gewellter Sand
wie auf dem Grund eines Flusses. Sydney zieht die Hand durch das Wasser und ist
erstaunt, wie warm es ist. Zwischen dem Boot und der Insel liegen mehrere Sandbänke.
»Wir haben vielleicht zwanzig Minuten«, sagt Ben.
Er ankert und gibt im seichten Wasser Leine. Sydney stemmt sich über
die Seite der Whaler. Sie hat die Beine ihrer schwarzen Hose aufgerollt, aber sie
fallen sofort wieder herab. Sie watet durch das Wasser zu Ben.
»Tut mir leid«, sagt er mit einem Blick auf ihre durchweichten Hosenbeine.
Aber Sydney sieht nur die Insel, die vor ihr liegt. »Unglaublich«, sagt
sie.
Auch der Sand der Bänke ist gewellt, und die Wellen massieren ihre Füße.
Sydney staunt über die vielen Muscheln, zum Teil in Haufen, zum Teil am Rand der
Sandbank verteilt, die nur darauf zu warten scheinen, dass jemand sie sammelt. Sydney
und Ben überqueren erst eine Sandbank, dann eine zweite und steigen schließlich
einen steilen Hang hinauf. Ben geht voraus.
Die kleinen Häuser drängen sich auf der Anhöhe des Hügels zusammen. Alle
bis auf eines sind für den Winter mit Brettern vernagelt – oder vielleicht stehen
sie schon seit Jahren so. Es sind vier, alle mit Blick aufs Meer. Die Insel hat
die Größe eines Baseballfelds, und in ihrer Mitte ist ein Brunnen. Jemand hat das
Gras gemäht, was darauf schließen lässt, dass hier vor Kurzem noch jemand gewohnt
hat.
Sie folgt Ben zu einem bescheidenen braun-gelben Cottage mit einer Veranda.
Im Schindeldach sind vier Gauben – jede in einer Windrichtung. Einen knappen Kilometer
entfernt kann Sydney die Küste des Festlands erkennen.
»Wo sind wir?«, fragt sie.
»Das ist Frederick’s Island«, antwortet Ben. »Die Einheimischen nennen
sie Freddie’s.«
»Ist das die Insel…?«, fragt Sydney, an ihren Hochzeitstag denkend.
»Nein«, sagt Ben schnell.
Die braune Farbe ist stark verwittert, der gelbe Lack der Holzteile beinahe
zu einem Creme verblichen. Draußen an einer Mauer hängen Hummerbojen. Neben einer
Tür, die Ben aufsperrt, stehen zwei Regentonnen mit braunem Wasser. Er tritt ins
Haus und wartet, dass sie nachkommt.
Ihre Augen brauchen einen Moment, um sich umzugewöhnen. Sie steht in
einer kleinen Küche mit weiß gestrichenen Wänden und Balken. Ein primitiver Herd
ist da und ein kleiner Kühlschrank mit rostigen Scharnieren. Auf einem Bord neben
der Haustür stehen ein fleckiger Spiegel, ein Plastikbecher voller Zahnbürsten,
eine Dose Mückenspray, und daneben liegt eine Schere. In einem Specksteinbecken
unter dem Bord stehen Wasserbehälter aus Kunststoff. Rechts davon ist ein gelb-rot
gestreifter Glaskrug, der sie an die Krüge erinnert, die ihre
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