Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
großartig«, sagt Ben. »Ich glaube, sie konnte sich den Tod
nicht vorstellen und hatte deshalb keine Angst vor ihm. Sie sah, wie mein Vater
immer schwächer wurde, aber sie hat es einfach nicht an sich herangelassen. Es war
eine Art Blindheit. Als es dann so weit war, war es schrecklich für sie.«
»Ist Julie noch mit Hélène zusammen?«
»Sie haben nicht weit von uns ein Haus gemietet.« Ben dreht sich um und
hält nach Tullus Ausschau. »Wissen Sie, es ist schwer, das Leben aus einem Haus
zu räumen.«
Am Haus angekommen, stellt Ben ihren Aktenkoffer auf die unterste Treppenstufe.
»Ich gehe schon mal rein und bereite sie darauf vor, dass Sie hier sind. Dann hole
ich Sie. Ich glaube, das ist das Beste.«
»Ben«, sagt Sydney. »Ich habe Fragen.«
»Über meinen Vater?«
»Ja, auch. Aber…«
»Ja, das verstehe ich. Wir reden dann.«
»Und noch etwas«, sagt Sydney. »Wenn Ihre Mutter mich hier nicht haben
will…«
»Ich weiß.«
»Ihr Vater hat mir geschrieben, und ich habe seine Briefe nicht beantwortet«,
ruft Sydney plötzlich aus. »Es ist furchtbar, wenn ich jetzt daran denke. Was hätte
es mich denn gekostet, ihm zu antworten? Er hatte keine Schuld an dem, was zwischen
mir und Jeff passiert ist.«
»Das wusste er.«
»Ich habe ihn sehr vermisst.«
»Ich glaube, Ihr Hochzeitstag war grausam für ihn. Er musste ja nicht
nur zusehen, was sein Sohn Ihnen antat, er konnte es auch nicht ändern, dass Sie
dadurch der Familie entrissen wurden.«
Sydney wartet auf der untersten Treppenstufe, ihren Aktenkoffer auf dem
Schoß. Wenn sie im Haus nicht willkommen ist, wird Ben sie zu ihrem Wagen fahren,
und sie wird nach Boston zurückkehren. Sie kann sich nicht vorstellen, jetzt in
einem Vortrag zu sitzen, auch nur ein einziges Wort davon aufzunehmen.
Sie wartet beinahe zwanzig Minuten, so lang, dass es ihr peinlich wird.
Sie kann nur hoffen, dass Ben so vernünftig ist, nicht auf einem Besuch von ihr
zu beharren, sondern den Gedanken daran aufgibt, wenn seine Mutter absolut dagegen
ist. Oder was sonst kann diese lange Wartezeit bedeuten?
Sie beobachtet zwei Spaziergänger in blauen Windjacken auf dem nassen
Streifen Strand, der bei Niedrigwasser bloß liegt. Der Wind drückt ihnen das leichte
Material an die Körper und bläst das Haar aus ihren Gesichtern. Sie und Ben sind
mit dem Wind gegangen und haben ihn deshalb nicht so stark zu spüren bekommen. Jetzt,
hier auf der Treppenstufe, ist sie völlig durchgefroren. Sie hat nicht daran gedacht,
einen Pullover in ihren Aktenkoffer zu packen.
Jedes Mal, wenn Sydney versucht, sich Mr. Edwards’ Tod vorzustellen,
streikt ihre Phantasie. Sie stellt den Koffer nieder und legt den Kopf in ihre Hände.
Wäre es so schrecklich gewesen, Mr. Edwards anzurufen und zu bitten, sich mit ihr
vor dem Museum zu treffen, das so nahe bei ihrer Wohnung ist, dass sie zu Fuß hätten
hingehen können? Was muss er von ihr gedacht haben, als er auf seine Briefe keine
Antwort bekam? Ihr Schweigen hat ihn sicher verletzt. Ben hat es ja praktisch gesagt.
Wie hatte sie so herzlos sein können?
Am Vibrieren der Holzstufen merkt sie, dass Ben kommt, noch ehe er auf
der Sonnenterrasse erscheint.
»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagt er. »Es hat keine
Unstimmigkeiten gegeben, ich konnte nur meine Mutter nicht finden. Das Haus ist
ein einziges Chaos. Na ja, kein Wunder.«
Sydneys Namen rufend, kommt Julie den Plankenweg heruntergelaufen. Kräftig,
wie sie ist, hebt sie Sydney hoch und wirbelt sie herum. Sydney muss lachen, sie
kann nicht anders.
»Wo bist du so lange gewesen?«, fragt Julie vorwurfsvoll, als sie Sydney
herunterlässt. »Warum hast du meine Briefe nicht beantwortet?«
Sydney hat keine Antwort für das junge Mädchen, dessen fröhlicher Überschwang
dem sterbenden Vater ein Lebenselixier gewesen sein muss.
Auf dem Weg zum Haus hält Julie Sydney fest umschlungen. Sydney würde
gern einen Moment auf der Treppe stehen bleiben und sich sammeln, aber dafür ist
keine Zeit. Julie, in Jeans und pinkfarbenem Pulli, zieht sie die Stufen hinauf.
Sie ist jetzt einundzwanzig.
Aber drinnen im Haus lässt sie Sydney los, als verstünde sie, dass diese
jetzt vielleicht einen Augenblick für sich braucht.
Die weißen Sofas sind mit großen schwarzen Müllsäcken zugedeckt. An einen
der Säcke ist ein Zettel geheftet: Heilsarmee . Auf dem
Fußboden liegen Berge von Sachen aus dem Haus – Haushaltsgeräte, Bilder, Bücher.
Sydney versucht, eine Ordnung zu
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