Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
stemmt die Hände auf die Knie und steht auf. Er stößt schnaubend
die Luft aus und starrt lange zum Wasser hinaus. Dann schaut er zu Sydney hinunter.
»Dieses Schwein«, sagt er.
Sydney senkt den Kopf und schließt die Augen. Die Veranda schwankt unter
ihr wie bei einem Erdbeben. Sie lässt die Szene von damals, vor drei Jahren, noch
einmal vor sich ablaufen und versucht, sich jede Einzelheit ins Gedächtnis zu rufen.
Sie weiß noch, dass das Wasser sich wie ein Schraubstock um ihre Fesseln legte.
Einfache Bewegungen schienen ungeheuer mühevoll, als versuchte sie, nach langer
Krankheit das Laufen wieder zu erlernen. Sie sah die weißen Ränder einer Welle,
sie wollte nicht die Erste sein, die das Handtuch wirft. Das Brausen des Wassers
in ihren Ohren, die vollkommene Schwärze. Sie besaß keine Macht, überhaupt keine.
Die Welle war wie etwas Lebendiges. Sie taumelte. Sie kroch auf den trockenen Sand.
Sie kehrte ins Wasser zurück. Und die ganze Zeit war Ben doch an ihrer Seite. Oder
nicht?
Sie spürte etwas unter sich. Es glitt ihren Körper entlang, berührte
sie, betastete sie. Sie schlug um sich und versuchte, sich mit Gewalt aus der Welle
zu befreien, aber es gelang ihr nicht. Sie hatte den Mund voll Wasser.
Die schlüpfrige Bewegung über ihre Brust, ihren Bauch, ihr Schambein,
ihren Oberschenkel.
Flüchtig, aber vorsätzlich.
Schwierig auszuführen, daher muss sie vorsätzlich gewesen sein.
Ben, eine Gestalt in der Dunkelheit, der sich durch Rufen bemerkbar machte.
Aber Jeff. Wo war Jeff?
Ben rief nach seinem Bruder, erhielt aber keine Antwort. Ben wartete
ein wenig und rief noch einmal. Wie lang war diese kleine Pause? Die Zeit scheint
jetzt von entscheidender Bedeutung. Eine Minute? Zwei Minuten? Oder nur eine halbe?
Hat die Zeit gereicht, um wegzuschwimmen und aus der Ferne zu antworten?
Ben, vor dessen Berührung sie seither zurückgezuckt ist, der von diesem
Abend an immer etwas Verstohlenes für sie hatte. Der immer zu wissen schien, was
in ihr vorging.
»Ben«, sagt sie und schaut auf.
Aber Ben ist schon am Ende der Sonnenterrasse und blickt zum Wasser hinunter.
Über ihnen scheint der Mond, ein fernes Licht, das den Mann beleuchtet.
»Ben«, ruft sie noch einmal, aber die Brandung ist zu laut. Er kann sie
nicht hören. Sie sieht ihm nach, als er die Treppe hinunter zum Strand läuft.
Der Film vor ihrem inneren Auge läuft jetzt schnell weiter. Sydney sieht
Ben, wie er Saft aus dem Karton trinkt. War das tatsächlich ein egoistisches, ungehobeltes
Verhalten gewesen, wie sie damals geglaubt hat, oder bloß ein Echo unbekümmerter
Teenagerzeiten? Und, bei diesem ersten Abendessen mit Gästen, das Angebot, ihr ein
Bier zu holen – war das nicht Übergriffigkeit, sondern einfach die Höflichkeit eines
guten Gastgebers gewesen? Bens Verschlossenheit in der Bar – nicht die Taktik eines
zornigen Mannes, sondern lediglich eine Warnung? Bens Fernbleiben von jedem Familientreffen – nicht Hochmut und Wut, wie Sydney vermutet hatte, sondern ein einfaches Zurücktreten?
Sydney muss plötzlich an Jeff denken, wie er den Finger über ihren Oberschenkel
zog; an den Schemen, der im Wasser nach ihr griff.
Sie bleibt eine Weile auf der Treppe sitzen und wartet auf Bens Rückkehr.
Vielleicht macht er einen Spaziergang, um seinen Zorn verrauchen zu lassen. Wahrscheinlicher
ist, dass er nichts mit ihr zu tun haben will.
Sie dreht den Kopf, um zum Haus zurückzuschauen, und dabei fällt ihr
Blick auf den Karton auf dem Teakstuhl. In drei oder vier Tagen werden die neuen
Eigentümer das Haus in Besitz nehmen und nichts von dem Leben wissen, das einmal
in ihm gelebt wurde. Nichts von der Familie Edwards, von den Beechers oder den Richmonds.
Nichts von den Geburten und Todesfällen, von Versprechen, die gehalten, und solchen,
die gebrochen wurden. Nichts von der Angst, dem Entsetzen, der Freude, der Liebe.
Diese schlichte Erkenntnis ist für Sydney bestürzend. Wie ist es möglich, dass Jahre
eines Familienlebens innerhalb von Minuten zwischen Übergabe und Inbesitznahme ausgelöscht
werden können? Es sollte, denkt sie, eine Geschichte des Hauses geschrieben werden,
ein kleines Tagebuch, das von einem Eigentümer an den nächsten weitergegeben wird. An diesem Tag gab es einen großen Streit, könnte in dem
Tagebuch stehen, aber wir haben uns wieder vertragen, bevor wir
zu Bett gegangen sind. Oder: Heute Nachmittag sollte eigentlich
eine Trauung sein, aber der Bräutigam ist nicht erschienen. Oder: Mein
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