Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
erkennen. Vielleicht ist jeder Haufen für ein Familienmitglied
gedacht. Welcher ist Julies Haufen?, fragt sich Sydney. Welcher Bens?
Die Leere ist beinahe greifbar. Helle Flecken sind an den Wänden, wo
früher Bilder und Landkarten gehangen haben. Lampen sind ausgesteckt, Zeitschriftenstapel
mit Schnur gebunden. Schonbezüge wurden entfernt, Teppiche aufgerollt. An einer
Wand lehnt ein Besen, auf dem Fensterbrett steht eine Flasche Glasreiniger, darunter
hat sich eine Rolle Papiertücher fast bis zur Mitte des Raums abgespult. Als Sydney
das letzte Mal in diesem Haus war, schmückten Bänder und Schleifen eine Treppe,
und Schalen voller Rosen verbreiteten festlichen Duft. Als Sydney das letzte Mal
in diesem Haus war, gab es Champagner, und die Gäste warteten auf eine Hochzeitsfeier.
Am Rand ihres Gesichtsfelds bemerkt Sydney Mrs. Edwards, die in der
Küche an der Arbeitsplatte steht. Sydney begrüßt sie, und Mrs. Edwards erwidert
den Gruß. Sie ist erschreckend hager. Sie hat sich die Haare schneiden lassen und
so stark abgenommen, wie eine Frau sich das nur wünschen kann – Sorgen und Kummer
sind nun einmal weit effektiver als das Kalorienzählen. Sydney vermutet, dass es
im Moment kaum normale Mahlzeiten gibt. Sie tritt an die Arbeitsplatte. »Es tut
mir so leid«, sagt sie.
»Warum soll es dir leidtun?«, fragt Mrs. Edwards, nimmt einen Schwamm
und beginnt, den Granit zu wischen.
Über Mrs. Edwards’ Schulter hinweg kann Sydney durch das Fenster den
Rosengarten sehen oder das, was von ihm geblieben ist. Einzelne Blüten hängen von
beinahe laublosen Zweigen herab. Die wenigen vorhandenen Blätter haben schwarze
Flecken. Der Wind streicht über einen Garten voller Hagebutten und Rosen mit hängenden
Köpfen. Zum Teil ist der Verfall der Jahreszeit zuzuschreiben, in der Hauptsache
aber schlichter Vernachlässigung.
Der Inhalt einer Küchenschublade liegt ausgebreitet auf der Arbeitsplatte.
Auf einem Tisch im Esszimmer stehen Kartons, die mit Geschirr beschriftet sind. Tischtücher, noch nicht eingepackt, liegen ordentlich gestapelt.
Sydney erkennt das Wachstuch, das immer bei den Hummeressen aufgelegt wurde, die
Damastservietten – Schnäppchen vom Emporia-Flohmarkt. Ben öffnet den Kühlschrank
und nimmt zwei Flaschen Wasser heraus. Eine reicht er Sydney.
»Wir wollten gerade Mittag essen«, sagt Julie. »Habt ihr Hunger?«
»Ich gehe nur schnell duschen«, sagt Ben.
Brot, Schinken, Mayonnaise, Tomaten und grüner Salat sind auf der Arbeitsplatte
angerichtet. Sydney erinnert sich der köstlichen Kreationen, die Mr. Edwards früher
in dem Paninitoaster zusammengestellt hat. Sie macht sich ein einfaches Sandwich
und genießt es. Sie hat seit dem Frühstück am frühen Morgen nichts mehr gegessen.
Sie setzt sich mit Julie an den Küchentisch. Automatisch sucht sie nach
der Kerbe im Holz, an der sie so oft mit dem Pullover hängen geblieben ist.
»Wie geht es dir?«, fragt sie. »Wie geht es dir wirklich?«
Augenblicklich rötet sich Julies Gesicht. »Es ist so schrecklich«, stößt
sie hervor.
»Ich weiß«, sagt Sydney, obwohl sie es natürlich nicht weiß. Oder jedenfalls
nur teilweise. Ihre beiden Eltern sind noch am Leben und allem Anschein nach gesund,
sie sprechen noch miteinander, auch wenn der Ton nicht besonders freundlich ist.
Daniels Tod war etwas anderes, alles vorbei, bevor Sydney noch davon erfuhr.
Julie nimmt sich eine Papierserviette von einem losen Stapel und schnäuzt
sich. »Es geht mir ganz gut«, sagt sie. »Meistens jedenfalls. Hélène kommt immer
an den Wochenenden. Ach ja, ich mache eine Ausstellung.«
»Das ist ja toll«, sagt Sydney. »In Montreal?«
»In einem Vorort, nicht weit von der Stadt. Es ist eine Gruppenausstellung.
Ich zeige drei Bilder. Ich hätte Dias mitbringen sollen.«
»Ich würde mir die Ausstellung gern ansehen. Wann ist sie denn?«
»Im Januar.«
»Dann komme ich.«
»Ehrlich?« Julies Gesicht leuchtet auf. »Es findet auch eine Party statt.
Hélène ist sicher, dass eine Party stattfindet.«
»Ich komme auf jeden Fall«, verspricht Sydney, die erst jetzt erkennt,
wie schwer so ein Besuch in Montreal vielleicht werden wird.
Neben ihr entfaltet Julie eine frische Serviette. Sydney muss an das
blaue Taschentuch denken, das jetzt in einer Schublade in ihrer Wohnung liegt. »Ich
kann es nicht glauben, dass er tot ist«, sagt sie. So deutlich sieht sie noch die
Tüten Gummy Lobster in Mr. Edwards’ Hand; die Hummersoßenflecken
auf seinem
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