Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)
Flüchtige, äußerst seltene Momente – aber genug, dass seine Mutter in gewisser Weise immer noch Teil seines Lebens blieb.
Nach dem kurzen Ausflug in das Observatorium schlurfte Zack gelangweilt zum Süßigkeitenautomaten und zog sich ein Milky Way. Während er darauf herumkaute, ging er ein Stockwerk höher und dann nach draußen auf den Balkon. War hier denn überhaupt nichts los? Wie auf ein Stichwort krabbelte in diesem Moment seine Mutter den zerklüfteten Felsen hinauf, auf dem das Schloss stand. Mit katzenhafter Eleganz und scheinbar ohne jede Anstrengung hangelte sie sich an den nassen Schieferplatten entlang, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht. Oben angekommen sprang sie über die Brüstung und landete wenige Meter von Zack entfernt auf dem Balkon. Zwei Späher folgten ihr.
Zack blickte die Vogelscheuche, die einmal seine Mutter gewesen war, an und bemerkte, dass ihr Hautsack angeschwollen war und rötlich schimmerte. Sie hatte also gerade ein Mahl genossen.
»Na, hast du es dir schmecken lassen, Mom?«, fragte er angewidert. Aber wie immer, wenn er Kelly gegenüberstand, empfand er nicht nur Abscheu, sondern auch … Zuneigung. Es war schon vorgekommen, dass sie ihm stundenlang gefolgt war, immer in gebührendem Abstand, wie ein vorsichtiger Wolf. Und einmal hatte er ihr sogar über den Kopf gestrichen und später leise geweint.
Jetzt aber ging sie ins Schloss hinein, ohne Zack weiter zu beachten; ihre nackten Füße platschten über den verdreckten Boden. Zack sah ihr nach, und für einen Augenblick glaubte er hinter der Vampirfratze das Gesicht seiner Mutter zu erkennen – Kelly Goodweather, wie sie einmal gewesen war. Aber so schnell er gekommen war, so schnell verschwand dieser Eindruck auch wieder, verschwand hinter dem leeren Blick des Monsters, das er nicht aufhören konnte zu lieben. Alles andere aus seinem früheren Leben war verschwunden, nur das war ihm geblieben: eine zerbrochene Puppe.
Plötzlich spürte Zack einen warmen Lufthauch, als hätte sich etwas in seiner Nähe bewegt. Und ein leises Summen machte sich in seinem Kopf breit.
Der Meister war zurück.
Hektisch liefen Kelly und die Späher die Treppe hinauf, und Zack ging hinterher – neugierig, was die Eile zu bedeuten hatte.
Der Meister
Vor langer Zeit war es dem Meister möglich gewesen, die Stimme Gottes zu verstehen. Vor langer Zeit hatte er sie tief in sich getragen. Und in gewisser Weise war da noch immer ein Abglanz jenes Zustands der Gnade, in dem er sich befunden hatte. So war der Meister ein Wesen, das alles auf einmal sah und hörte, alle Dinge, alle Verbindungen, alle ihm Anvertrauten. Und wie die Stimme Gottes, so war auch die Stimme des Meisters ein Konzert, in dem alle Gegensätze vereint waren: die sanfte Brise ebenso wie der heftige Sturm, das Murmeln des Windes ebenso wie der Donner, der Aufgang der Sonne ebenso wie ihr Untergang.
Aber die Stimme Gottes umfasste alles, nicht nur Kontinente, nicht nur die Erde – alles . Und der Meister hörte sie, aber er verstand sie nicht mehr. Nicht so, wie er sie vor langer Zeit verstanden hatte.
So ist das also nach dem Sündenfall , dachte er zum millionsten Mal. Wenn man Seiner Gnade nicht mehr würdig ist. Und doch hatte er vieles erreicht: Er kontrollierte den ganzen Planeten durch die Augen seiner Vampire. Er war die Spinne in einem eng gesponnenen Netz. Seine tausend Finger hielten die Erde in einem eisernen Griff.
Ephraim Goodweather hatte im Bellevue Hospital siebzehn seiner Vampire getötet. Sie würden schon bald ersetzt werden – Fragen der Arithmetik waren für den Meister von großer Bedeutung.
Die Späher waren nach wie vor unterwegs, suchten die Gegend um das Krankenhaus ab, waren dem flüchtigen Doktor auf der Spur. Bisher hatten sie ihn nicht gefunden, aber letztlich würde der Meister siegen, würde er das Schachspiel für sich entscheiden. Goodweather hatte das einfach nur noch nicht akzeptiert – er überließ es dem Meister, diese sinnlose Jagd auf das letzte Puzzlestück fortzusetzen.
Das letzte Puzzlestück jedoch war nicht Ephraim Goodweather. Es war das Occido Lumen . In diesem verfluchten Buch stand die Geschichte des Meisters und der anderen Alten – und damit auch das Geheimnis, wie man ihn, den Meister, zu Fall bringen konnte. Wenn man den Text richtig las, verriet er einem, wo sich seine Herkunftsstätte befand.
Glücklicherweise waren die jetzigen Besitzer des Buches in dieser Hinsicht Analphabeten. Professor
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