Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)
der Leopard, der sich Zack untertan gemacht hatte? Hatte Zack ihm nicht monatelang zu Fressen gebracht? Wer war hier wessen Tier?
Hass stieg in Zack auf. Hass auf die Arroganz dieses Tieres. Auf seinen unerschütterlichen Willen. Er packte das Gewehr fester und ging langsam am Zaun entlang – gefolgt vom Leoparden auf der anderen Seite –, bis er zu dem flachen Häuschen kam, an dem NUR FÜR ANGESTELLTE stand. Von hier aus wurde der Leopard gefüttert. Zack ging hinein und blickte durch die schmale Tür, die in das Innere des Geheges führte. Es schien ihm, als würde sein tiefes Atmen den gesamten Raum ausfüllen.
Und dann ging er durch die Tür.
Es war das erste Mal, dass er sich innerhalb der Umzäunung befand. Er sah zu dem Drahtgeflecht hoch über sich auf. Und dann sah er nach unten, auf den Boden, wo Knochen unterschiedlichster Größe lagen. Die Überbleibsel früherer Mahlzeiten.
Eigentlich hatte er sich die Sache ganz einfach vorgestellt: Sein Plan war gewesen, sich in den Bambushain zu schleichen, dort auf den Leoparden zu warten und über Leben oder Tod zu entscheiden, wenn sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Doch als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, war das wie die Glocke, die zum Abendessen rief – und tatsächlich kam der Leopard augenblicklich hinter dem großen Felsen hervor, den man in der Nähe platziert hatte, damit die Zoobesucher die blutige Fütterung nicht zu sehen bekamen.
Das Tier hielt mitten im Lauf inne, völlig perplex über diese ungewohnte Situation: Ein Mensch innerhalb des Geheges; kein Zaun zwischen ihnen. Der Leopard senkte leicht den Kopf, als müsste er erst kurz darüber nachdenken … und in diesem Moment wurde Zack klar, dass er einen furchtbaren Fehler gemacht hatte. Blitzschnell riss er das Gewehr hoch und drückte ab.
Nichts geschah. Er drückte noch einmal ab. Wieder nichts.
Panisch griff er nach dem Bolzen und schob ihn vor und zurück. Drückte ab. Die Waffe machte einen Satz. Wieder der Bolzen. Dann wieder Abdrücken. Das Gewehr zuckte wieder. Und noch einmal. Und dann machte es Klick , und das Magazin war leer.
Und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Leopard nicht mehr vor ihm stand, sondern auf der Seite lag.
Langsam, ganz vorsichtig ging Zack auf das Tier zu. Sah die Blutflecken auf dem Fell. Die geschlossenen Augen. Die starren Glieder.
Er wandte sich ab und stieg auf den Felsen. Setzte sich dort oben hin, das Gewehr im Schoß. Zitterte. Weinte. Und empfand ein Gefühl des Triumphs. Vom Leopardengehege aus überblickte er den Zoo. Es hatte wieder zu regnen begonnen.
Von diesem Tag an war einiges anders. Zack ging regelmäßig in den Zoo, um seine Schießkünste zu trainieren – er schoss auf Schilder, Plakate, Aufsteller. Und er nahm auch sonst größere Risiken in Kauf: Mit seinem Fahrrad peste er die ehemaligen Joggingpfade hinunter, über die große Liegewiese, vorbei an den verschrumpelten Leichen in den Bäumen und den längst heruntergebrannten Scheiterhaufen. Ja, in der Nacht fuhr er sogar ohne Licht. Es war wie Magie – ein magisches Abenteuer. Er wusste, dass der Meister seine schützende Hand über ihn hielt.
Eines änderte sich jedoch nicht: Er spürte immer noch die Präsenz seiner Mutter. Auch wenn diese seltsame psychische Verbindung im Laufe der Zeit schwächer geworden war, wusste er doch stets, wenn seine Mutter in der Nähe war. Seine Vampir-Mutter. Kaum etwas an Kelly Goodweather erinnerte noch an den Menschen, der einmal seine Mutter gewesen war. Ihr Kopf war haarlos und verdreckt, ihre Lippen schmal und blutleer. Ihre Nase und Ohren hatten sich in unansehnliche Knorpel verwandelt. Fleischige Wülste hatten sich in ihrem Genick gebildet, und wenn sie den Kopf bewegte, schaukelte ein purpurner Hautsack an ihrer Kehle mit. Ihre Brüste waren völlig verschwunden, und der ganze Rumpf war von einer dicken Schmutzschicht bedeckt, die noch nicht einmal der strömende Regen abwaschen konn te. Ihre Augen waren schwarze Kugeln, die in einem tiefdunklen Rot schwammen, und hatten nichts Lebendiges an sich – außer in jenen Momenten, in denen es schien, als würde Kelly Zack erkennen, als würde sie sich daran erinnern, dass sie einmal seine Mutter gewesen war. Aber es konnte gut sein, dass er sich das auch nur einbildete: Es war keine wirkliche Emotion; es war eher, als würde ein Schatten über ihr Gesicht fallen, der den Vampir für einen Augenblick verbarg, ohne den Menschen wirklich zum Vorschein zu bringen.
Weitere Kostenlose Bücher