Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)
Energie und das frische Gewebe eines jungen Menschen von Vorteil, aber letztlich war ein solcher Körper noch zu schwach, zu zerbrechlich. Doch so wie der Meister keine außergewöhnliche körperliche Kraft mehr benötigte – wie sie Jusef Sardu einst besessen hatte, der Hüne, in dessen Körper er in die Neue Welt gekommen war und den er verlassen musste, nachdem Setrakian ihn vergiftet hatte –, so bedurfte er auch keiner besonderen Attraktivität oder Ausstrahlung mehr – wie es bei Gabriel Bolivar, in dem er sich jetzt befand, der Fall war. Das alles war nicht mehr von Bedeutung. Das einzige, was für den Meister in Zukunft zählte, war Zweckmäßigkeit.
Der Prozess war noch auf eine andere Weise nützlich: Durch die Augen des Jungen konnte der Meister einen Blick auf sich selbst, auf Gabriel Bolivar, werfen. Was durchaus interessant war. Immerhin war Bolivar eine Berühmtheit gewesen: ein Sänger, ein Rockstar. Und das, kombiniert mit der dunklen Magie des Meisters, übte eine unwiderstehliche Wirkung auf den jungen Zachary aus.
Ebenso interessant war die Wirkung, die Zack auf den Meister ausübte. Der ranghöchste Vampir nahm sich des kleinen Menschenjungen wie ein weiser, väterlicher Ratgeber an. Hatte es im langen Leben des Meisters etwas Derartiges schon einmal gegeben? Er konnte sich nicht erinnern. Er hatte nie auch nur die geringste Rücksicht genommen, wenn es darum gegangen war, eine Seele nach seinem Willen zu formen. In Sachen Brutalität konnte es wahrlich niemand mit ihm aufnehmen.
Aber Zack war anders als die Menschen, mit denen es der Meister bisher zu tun gehabt hatte. Die Aura des Jungen war rein – wie die seines Vaters. Sie war wie eine kristallklare Flüssigkeit, die man erforschen – und verschmutzen – konnte.
All das steigerte die Neugier des Meisters auf den Jungen. Jahrhundertelang hatte er die Menschen beobachtet – nicht nur das, was sie taten, sondern vor allem das, was sie nicht taten. Ein Verhaltensforscher erkannte eine Lüge in den unzähligen kleinen Gesten, die sie begleiteten; der Meister erkannte eine Lüge bereits zwei Herzschläge, bevor sie ausgesprochen wurde. Nicht dass ihm das in moralischer Hinsicht irgendetwas bedeutet hätte. Aber es war überlebenswichtig für ihn, Wahrheit und Lüge voneinander trennen zu können, wenn er einen Pakt mit einem Menschen schloss … Und so lebte der Meister unter den Sterblichen wie ein Entomologe unter Insekten: Er hatte sie bis ins letzte Detail studiert und hätte nie gedacht, dass er noch etwas Neues über diese Spezies herausfinden würde. Bis jetzt.
Jetzt hatte der Meister ein neues, faszinierendes Studienobjekt gefunden. Und je mehr Zachary Goodweather etwas vor ihm zu verbergen versuchte, desto mehr las der Meister aus ihm heraus – ohne dass sich der Junge dessen bewusst war. Indem er Zachary studierte, sammelte der Meister aber auch Informationen über seinen Vater Ephraim.
Ephraim … Wahrlich ein interessanter Name. So hieß der zweite Sohn von Josef und Asenat, jener Frau, der ein Engel einen Besuch abgestattet hatte. Ephraim – bekannt nur für seine Nachkommen, in der Bibel verlorengegangen, ohne eigene Identität, ohne Zweck.
Der Meister lächelte.
Die Suche ging also weiter. Die Suche nach dem Occido Lumen , dessen silbergebundene Seiten das Geheimnis seiner Herkunftsstätte enthielten. Und die Suche nach Ephraim Goodweather.
Und wie so oft ging dem Meister der Gedanke durch den Kopf, dass er beides gleichzeitig in seinen Besitz bringen konnte.
Jedenfalls war er überzeugt, dass der »Dunkle Ort« nicht weit von hier entfernt lag. Alle Indizien deuteten darauf hin – jene Indizien, die ihn überhaupt erst hierher geführt hatten. Die uralte Prophezeiung, aufgrund derer er den Atlantik überquert hatte. Dennoch – nur um ganz sicherzugehen, dass sich seine Herkunftsstätte nicht doch woanders befand – führten seine Vampire in allen Teilen der Welt Ausgrabungen durch. Die schwarzen Klippen von Negril, die Black Hills in South Dakota, die Pointe-Noire-Ölfelder an der Westküste der Republik Kongo …
Außerdem hatte der Meister dafür gesorgt, dass es praktisch keine Nuklearwaffen mehr auf der Erde gab. Er hatte unverzüglich die Kontrolle über die Atomstreitkräfte übernommen, indem er Soldaten und Offiziere gleichermaßen zu seinen Schergen gemacht hatte. Bestimmt waren einige Nuklearsprengköpfe in den Händen von Kleinstaaten oder Schmugglerbanden verblieben, doch es war nur eine Frage der
Weitere Kostenlose Bücher