Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)

Abraham Setrakian hatte das Occido Lumen vor zwei Jahren bei jener schicksalhaften Sotheby’s-Auktion an sich gebracht – der einzige Mensch, der wusste, wie man den uralten Text entschlüsselt. Doch dafür war dem alten Mann nicht genug Zeit geblieben. Der Meister hatte ihn verwandelt, und in dem kurzen Moment, in dem er mit ihm verbunden gewesen war – bevor die Explosion des Atomkraftwerks Setrakian getötet hatte –, hatte der Meister den Gedanken des Professors alles entnommen, was dieser aus dem Occido Lumen erfahren hatte.
    Alles – und doch nicht genug. Den Ort seiner Herkunftsstätte, jenen sagenumwobenen »Dunklen Ort«, hatte Setrakian bis zum Ende nicht herausbekommen. Das war ärgerlich, aber es bedeutete, dass auch keiner von Setrakians Verbündeten ihn kannte. Der alte Professor war eine einzigartige Koryphäe gewesen, was die Geschichte der strigoi betraf, und sein Wissen war mit ihm gestorben, verloschen wie eine ausgeblasene Kerze.
    Der Meister war sich sicher, dass Setrakians Verbündete mit dem Occido Lumen nichts anfangen konnten. Aber der Herr der Vampire wollte selbst wissen, wo sich seine Herkunftsstätte befand. Nur ein Narr überließ eine so bedeutsame Information dem Zufall.
    In jenem Moment, in dem sich sein Geist mit dem Setrakians verbunden hatte, hatte der Meister auch erfahren, wer die anderen waren, die sich gegen ihn verschworen hatten: Vasiliy Fet, der Ukrainer – Nora Martinez – Augustin Elizalde … Aber dem stärksten von ihnen war der Meister bereits begegnet: Dr. Ephraim Goodweather. Was der Meister damals jedoch nicht gewusst hatte, ja, was ihn wirklich überrascht hatte, war, dass auch Setrakian Goodweather für den stärksten von ihnen gehalten hatte; dass er ihn, all seiner emotionalen Schwächen und seiner Verwundbarkeit aufgrund des Verlusts seines Sohnes zum Trotz, für gänzlich unkorrumpierbar gehalten hatte.
    Der Meister neigte nicht dazu, sich überraschen zu lassen, nach so vielen Jahrhunderten gab es für ihn keine echten Offenbarungen mehr – doch das hatte ihn tatsächlich erstaunt. Immerhin hatte er einen gewissen Respekt vor der Meinung Abraham Setrakians, seines geschätzten Feindes.
    Zu Beginn war das Interesse des Meisters an Ephraim Goodweather nur eine Art von Zeitvertreib.
    Aus dem Zeitvertreib wurde eine Aufgabe.
    Und aus der Aufgabe eine Obsession.
    Wie war Setrakian nur zu dieser Meinung über Goodweather gelangt? Jeder Mensch zerbrach früher oder später. Manchmal brauchte es nur Minuten, manchmal Tage, manchmal Jahrzehnte – aber am Ende gewann immer der Meister. Es war ein Geduldsspiel. Und der oberste Gebieter der Vampire hatte mehr Zeit und Geduld als alle Menschen zusammen; er musste sich nicht mit irgendwelchen Illusionen oder Hoffnungen herumplagen.
    Und so hatte sich der Meister Goodweathers Sohn zugewandt. Hatte ihn entführt, aber nicht zu einem Vampir gemacht. Hatte damit begonnen, den Defekt in der Lunge des Jungen mit seinem Blut zu lindern – und dadurch in seine Gedanken zu blicken.
    Zachary Goodweather hatte auf die Annäherung des Meisters nicht ablehnend reagiert, sondern – nachdem er seine anfängliche Angst überwunden hatte – mit Interesse, ja Bewunderung. Und seither stärkte der Meister den Geist des Jungen. Trieb ihm seine naiven Vorstellungen von Gott aus. Schrumpfte Zacks Gefühle für seinen Vater wie einen Krebstumor in der Strahlentherapie. Knetete die Gedanken des Jungen wie ein Stück Teig.
    Bereitete ihn vor.
    In der Regel traf der Meister auf solche Menschen erst am Ende eines langen Verfallsprozesses – wenn sie schon gebrochen waren. In diesem Fall jedoch hatte er die Möglichkeit, diesen Prozess direkt zu beeinflussen: die Korrumpierung des Abkömmlings jenes Mannes, der als unkorrumpierbar galt. Es hatte längst begonnen: Als Zack dem Leoparden gegenübergetreten war, hatte der Meister seine Angst gespürt. Und dann hatte er seine Freude gespürt … Ja, durch die Verbindung mit dem Jungen würde der Meister Ephraim Goodweathers Ende miterleben.
    Kein anderer Mensch in seiner Nähe war so lange am Leben oder überhaupt menschlich geblieben. In diesem Fall hatte der Meister eine andere Entscheidung getroffen: Zachary Goodweather würde sein nächster Körper sein. Und er bereitete ihn Schritt für Schritt darauf vor. Im Laufe der vielen Jahre war dem Meister klargeworden, dass es nicht ratsam war, einen Körper in Besitz zu nehmen, der jünger als dreizehn Jahre war. Natürlich waren die unbändige