Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)
wenige Augenblicke senkte Quinlan seine Waffe – und sofort ergriff der Meister die Gelegenheit zur Flucht. Kletterte mit seinen Klauenhänden den schroffen Felsen hinunter. Verschwand in dem düsteren Labyrinth aus Gräbern und Tunneln.
Viele Jahre später segelte ein Schiff aus dem englischen Plymouth nach Cape Cod in der Neuen Welt. Die offizielle Liste vermerkte einhundertdreißig Passagiere an Bord, doch in vier mit Blumenerde und Tulpenknollen gefüllten Holzkisten – offenbar wollte sich der Eigentümer das Klima an der amerikanischen Ostküste zunutze machen – reisten auch die Alten und ihr Verbündeter Quinlan über den Atlantik. Auf dem neu entdeckten Kontinent angekommen, errichteten sie, unterstützt von Kiliaen Van Zanden, einem der mächtigen Kaufleute jener Zeit, tief in der Erde ihr Schattenreich. Ihr wichtigstes Ziel war es, das Occido Lumen in den Besitz zu bekommen – in der Hoffnung, eine Antwort auf die einzige Frage zu erhalten, die für Quinlan und die Alten wirklich von Bedeutung war:
Wie konnte man den Meister vernichten?
Camp Liberty
Das schrille Signal der Lagerpfeife riss Nora Martinez aus dem Schlaf. Sie lag in einer Art Hängematte – ein Leintuch, das mit Seilen an der Decke angebracht war und sie wie ein Kokon umschloss. Um herauszukommen, musste sie ihren Körper ans hintere Ende schieben und sich mit den Füßen voran nach unten fallen lassen.
Während sie sich aufrappelte, spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie bewegte den Kopf. Er fühlte sich seltsam leicht an. Sie hob die Hand. Berührte nackte Kopfhaut.
Ihre Haare waren verschwunden.
Verfluchte Hurensöhne!
Nora war wirklich nicht eitel, was ihr Aussehen betraf, aber auf ihr schönes Haar war sie immer stolz gewesen; sie hatte es stets lang getragen, obwohl das in ihrem Job als Epidemiologin gewisse Nachteile mit sich gebracht hatte. Jetzt fuhr sie sich über den Kopf, als müsste sie eine Migräne bekämpfen, berührte nackte Haut, wo sie sie noch nie zuvor berührt hatte. Tränen liefen über ihre W angen, und ganz plötzlich fühlte sie sich kleiner und schwächer als zuvor – obwohl es dafür eigentlich überhaupt keinen Grund gab. Indem sie ihr das Haar genom men hatten, hatten sie ihr auch ein Stück Selbstbewusstsein genommen.
Allerdings war dieses Gefühl von Schwäche nicht ausschließlich eine Folge der Kopfrasur. Nora fühlte sich wirklich benommen. Sie war erstaunt, dass sie nach der verwirrenden und beängstigenden Aufnahmeprozedur überhaupt hatte schlafen können; eigentlich hatte sie sich fest vorgenommen, wach zu bleiben, um so viel wie möglich über den Quarantänebereich herauszufinden, bevor man sie in das Lager mit dem absurden Namen Camp Liberty brachte.
Der Geschmack in ihrem Mund – als hätte man sie mit einer Baumwollsocke geknebelt – verriet ihr, dass man ihr ein Betäubungsmittel verabreicht hatte. Die Wasserflasche, die sie ihr gegeben hatten … Gottverdammt, ich hätte es wissen müssen!
Eine Welle des Zorns stieg in ihr auf, und ein guter Teil davon war auf Eph gerichtet. Aber es war ja völlig sinnlos, auf ihn wütend zu sein. Also versuchte Nora, an Vasiliy zu denken, stellte sich vor, wie sie ihn in ihre Arme schloss. Sie war sich sicher, dass sie keinen der beiden je wiedersehen würde – außer es gelang ihr irgendwie, aus diesem Lager zu entkommen.
Es war ein kluger Schachzug der strigoi – oder ihrer menschlichen Verbündeten von der Stoneheart Group –, die für Camp Liberty verantwortlich waren, die Neuzugänge erst einmal in Quarantäne zu stecken. Ein solches Lager war eine potenzielle Brutstätte für Infektionskrankheiten, und die Vampire konnten es sich nicht erlauben, ihre wertvollen Blutspender zu verlieren.
In diesem Moment wurde der Vorhang vor der Tür zur Seite geschoben, und eine Frau, die denselben schiefergrauen Overall wie Nora trug, trat ein. Sie hatte sie schon gestern gesehen, Nora erinnerte sich an ihr Gesicht: die hohlen Wangen, die papierene Haut, die vielen Fältchen um Mund und Augen. Schwarze Haarstoppeln bedeckten ihren Kopf; es war wohl wieder Zeit für eine Rasur. Trotzdem wirkte die Frau erstaunlich fröhlich. Sie hatte hier offenbar irgendeinen offiziellen Status, jedenfalls schien sie sich um die Neuankömmlinge zu kümmern. Ihr Name war Sally.
Ohne große Umschweife fragte Nora dasselbe, was sie bereits einen Tag zuvor gefragt hatte: »Wo ist meine Mutter?«
Worauf Sally lächelte, als wäre sie eine Kaufhausangestellte, die
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