Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)
einen aufgebrachten Kunden besänftigen musste. »Wie haben Sie geschlafen, Miss Rodriguez?«
Nora hatte, da sie durch die Verbindung mit Eph bestimmt auf allen Fahndungslisten stand, bei der Ankunft im Lager einen falschen Namen angegeben. »Dank des Mittels, das man mir verabreicht hat«, erwiderte sie, »habe ich ziemlich gut geschlafen … Aber ich habe gefragt, wo meine Mutter ist.«
»Soviel ich weiß, wurde sie ins Sunset gebracht. Das ist eine an Camp Liberty angeschlossene Siedlung, in der die Senioren ihren Lebensabend verbringen. Jedenfalls ist das das übliche Verfahren.«
»Wo ist das? Ich will zu ihr.«
»Es ist ein eigenständiger Teil des Lagers. Ich bin sicher, dass Sie sie bald besuchen können. Aber jetzt noch nicht.«
»Führen Sie mich dorthin!«
»Ich … ich kann Ihnen den Eingang zeigen. Aber ich war selbst niemals dort.«
»Sie lügen. Oder Sie glauben tatsächlich, was Sie da sagen. Dann belügen Sie sich selbst.« Nora war bewusst, dass Sally lediglich der Überbringer der Nachricht war, dass sie in der Hierarchie des Lagers keine bedeutende Rolle spielte. Sie belog sie nicht willentlich, sondern sagte lediglich, was sie ihr sagen sollte; vielleicht wusste sie ja tatsächlich nicht, was sich hinter diesem »Sunset« in Wahrheit verbarg. Nora unterdrückte ihre Wut und sagte: »Hören Sie mir bitte zu. Meine Mutter ist krank und verwirrt. Sie hat Alzheimer.«
»Ich bin sicher, dass man sich gut um sie kümmert.«
»Kümmern? Sie werden sie töten – sie ist ihnen in keiner Weise mehr von Nutzen. Verstehen Sie denn nicht? Sie ist krank und gerät in Panik, wenn sie von Fremden umgeben ist. Ich will sie einfach nur noch einmal sehen. Ein letztes Mal.« Das war natürlich eine Lüge – Nora wollte mit ihrer Mutter aus dem Lager fliehen. Doch dafür musste sie sie erst einmal finden. Sie sah Sally tief in die Augen. »Sie sind doch ein Mensch wie ich. Wie können Sie das hier nur tun?«
Sally machte nicht den Eindruck, als hätte sie die Frage wirklich verstanden. Sie legte die Hand auf Noras Arm und drückte ihn sanft. »Es geht ihr bestimmt gut, Miss Rodriguez. Die Senioren bekommen alles, was sie benötigen, und müssen dafür keinerlei Gegenleistung erbringen. Um ehrlich zu sein, beneide ich sie.«
»Glauben Sie das wirklich ?«
»Mein Vater ist auch dort.«
Nun griff Nora nach Sallys Hand. »Aber – wollen Sie ihn denn nicht sehen? Zeigen Sie mir, wo es ist.«
Wieder setzte Sally das Kaufhauslächeln auf und strahlte Nora an – die ihr in diesem Moment nur allzu gern eine Ohrfeige verpasst hätte. »Ich weiß, dass eine solche Trennung nicht einfach ist, Miss Rodriguez. Aber Sie müssen sich jetzt vor allem um sich selbst kümmern.«
»Haben Sie mir das Beruhigungsmittel verabreicht?«
Das Lächeln verschwand aus Sallys Gesicht. Jetzt sah sie leicht besorgt drein – als fürchtete sie um Noras zukünftige Produktivität innerhalb des Lagers. »Nein, ich habe keinen Zugang zu Medikamenten.«
»Werden Sie selbst ab und an ruhiggestellt?«
Sally tat so, als hätte sie die Frage nicht gehört. »Nun, Miss Rodriguez, die Quarantäne ist vorbei. Sie sind jetzt Teil der Lagergemeinschaft. Ich werde Ihnen alles zeigen, so dass Sie sich hier schnell zurechtfinden.«
Sie führte Nora eine Art Schleusengang entlang, über dem eine durchsichtige Plane angebracht war. Nora sah zum Himmel auf: Wie immer waren die Sterne von dicken Wolken verdeckt, und trotz der Plane tropfte der Regen auf ihre Füße. Nora trug Krankenhaussandalen mit dicken Schaumsohlen, Sally etwas komfortablere, aber nun ebenso feuchte Sneakers. Kurz darauf kamen sie zu einem Kontrollpunkt, an dem ein Mensch stand: etwa fünfzig Jahre alt, weißer Doktorkittel über dem grauen Overall, den hier offenbar alle trugen. Er blätterte die Papiere durch, die ihm Sally gab, musterte Nora wie ein Zollbeamter, dann ließ er sie passieren.
Sie gingen einen schmalen Kiesweg entlang auf einen Aussichtsturm zu, der Nora an eine Wasserrettungsstation an einem Strand erinnerte. Von diesem Posten aus verlief der Weg in alle Richtungen. Langgestreckte, niedrige Gebäude, Warenhäusern ähnlich, standen in der Nähe; etwas weiter entfernt waren fabrikartige Betonbauten zu sehen. Es gab keine Wegweiser, nur hin und wieder flache Steine am Boden, in die Pfeile geritzt waren. Damit sich die Menschen in der Dunkelheit zurechtfanden, waren entlang der Wege Niedrigenergielampen angebracht.
Und dann sah Nora die Vampire.
Sie standen
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