Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)
um den Posten herum, während der Regen auf ihre Köpfe und Schultern prasselte und ihre nackte blei che Haut hinunterlief. Was ihnen allerdings überhaupt nichts auszumachen schien – mit hängenden Armen beobachteten sie die vorbeikommenden Menschen mit ebenso ernster wie unbeteiligter Miene. Sie waren alles in einem: Sicherheitspersonal, Wachhunde, Kameras. Nora lief es kalt den Rücken hinunter.
»Um einen geordneten Ablauf zu gewährleisten, bedarf es gewisser Sicherheitsmaßnahmen«, sagte Sally, als sie Noras gerunzelte Stirn bemerkte. »Tatsächlich gibt es hier nur sehr selten Zwischenfälle.«
»Zwischenfälle? Durch Menschen, die sich zur Wehr setzen?«
Sally zog eine Augenbraue hoch. »Zwischenfälle eben.«
Eine Mischung aus Beklemmung und Angst schnürte Nora die Kehle zu: Sie war den strigoi so nahe – und hatte keine Silberwaffe, um sich gegen sie zur Wehr zu setzen … Und es schien ihr, als könnten die Vampire Angst geradezu riechen. Die Stachel klickten rhythmisch gegen ihre Gaumen, als sie das Adrenalin witterten.
»Wir sollten uns hier nicht länger aufhalten«, sagte Sally, und Nora spürte, wie ihr die schwarz-roten Augen der Kreaturen nachstarrten, während sie in Richtung eines der flachen Gebäude gingen. Dann sah sie die hohen Maschendrahtzäune, die das Lager umgaben. Sie waren mit orangefarbenen Wetterplanen überzogen und am oberen Ende in einem 45-Grad-Winkel nach außen gebogen. Nora konnte den dort angebrachten Stacheldraht erkennen … Sie würde einen anderen Weg aus dem Lager finden müssen.
Jenseits des Zauns erblickte sie nadellose Baumspitzen. Sie hatte schon vermutet, dass sie sich außerhalb der Stadt befanden. Es gab Gerüchte über ein großes Lager im Norden Manhattans und zwei kleinere auf Long Island und im nördlichen New Jersey. In welchem war sie? Sie hatten ihr eine Kapuze über den Kopf gezogen, bevor sie sie hierher gebracht hatten, und Nora hatte sich viel zu viele Sorgen um ihre Mutter gemacht, um sich eine Vorstellung von der Fahrzeit zu machen.
Nach einer Weile kamen sie zu einem abgesperrten Rolltor, das bestimmt vier Meter hoch und mindestens so breit war. Es wurde von zwei Frauen bewacht, die in einem kleinen Häuschen saßen und Sally zunickten, als sie sie sahen. Sie öffneten das Schloss und machten das Tor gerade so weit auf, dass Sally und Nora hindurchschlüpfen konnten.
Im Zentrum des abgetrennten Bereichs stand eine große Holzbaracke, die Nora aus irgendwelchen Gründen eher an eine anheimelnde Blockhütte als an eine medizinische Einrichtung erinnerte. Dahinter sah sie Dutzende Wohnwägen, alle in Reih und Glied aufgestellt wie in einem perfekt durchgeplanten Trailerpark.
Sie betraten die Baracke, gingen einen schmalen Flur entlang und kamen in einen geräumigen Aufenthaltsraum, der einer Mischung aus Flughafenlounge und Studentenwohnheim glich. Auf einem Fernseher in der Ecke lief eine alte Frasier -Episode, deren Lachspur unter diesen Umständen besonders deplaziert klang – wie das höhnische Gelächter einer vergangenen Zeit.
An die zehn Frauen saßen in pastellfarbenen Stoffsesseln, die überall im Raum verteilt waren. Im Gegensatz zu Noras und Sallys grauem Overall trugen sie alle strahlend weiße Pullover. Und unter den Pullovern wölbte sich unübersehbar ihr Bauch – die Frauen waren alle mindestens im sechsten Monat schwanger. Außerdem war es ihnen ganz offensichtlich erlaubt, ihr von den Schwangerschaftshormonen dickes und glänzendes Haar wachsen zu lassen.
Und dann sah Nora noch etwas anderes: Eine der Frauen knabberte an einem Pfirsich, dessen Haut rot geädert und dessen Fleisch weich und saftig war. Nora lief das Wasser im Mund zusammen. Das einzige frische Obst, das sie im letzten Jahr zu sich genommen hatte, waren einige breiige Äpfel gewesen, die sie in einem Hinterhof in Greenwich Village von einem sterbenden Baum gepflückt hatte. Sie hatte die verdorbenen Stellen weggeschnitten, bis die Äpfel so ausgesehen hatten, als hätte man sie schon einmal gegessen.
Noras Verwunderung – und ihr Verlangen – war ihr offenbar deutlich anzusehen, denn die schwangere Frau schlug die Augen nieder, als sie ihrem Blick begegnete.
Nora wandte sich Sally zu. »Was ist das hier?«
»Die Geburtsstation. Hier halten sich die Frauen während der Schwangerschaft auf, und hier kommen auch die Kinder zur Welt. Sonst leben sie in den Wohnwägen rund um das Gebäude, die zum Komfortabelsten gehören, was Camp Liberty zu bieten
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