Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)
Schockiert lief Nora zurück auf ihr Zimmer und verbarg sich unter der Decke. Sie erwähnte den Vorfall kein einziges Mal, aber das Bild ihrer weinenden Mutter nachts in der Küche ging ihr nie wieder aus dem Kopf. Von diesem Moment an änderte sie ihr Verhalten. Kümmerte sich mehr um ihre Mutter, arbeitete so hart sie konnte.
Viele Jahre später, als die Demenz einsetzte, begann ihre Mutter sich über alles zu beschweren. Es war, als ob sich der über Jahre angestaute und nur mühsam zurückgehaltene Zorn endlich Bahn brach. Aber das machte Nora nichts aus. Sie würde ihre Mutter niemals im Stich lassen.
Niemals!
Etwa drei Stunden vor Sonnenaufgang öffnete Mrs. Martinez die Augen. Und für einen kurzen Moment war sie ganz klar im Kopf. Diese Momente gab es von Zeit zu Zeit, aber sie wurden immer seltener. Wie ein strigoi , dachte Nora, war ihre Mutter von einem fremden Willen besessen – und es war mehr als unheimlich, wenn sich für wenige Sekunden ihr altes Ich bemerkbar machte. So wie jetzt.
»Nora? Wo sind wir?«
»Leise, Mama. Es ist alles in Ordnung. Schlaf weiter.«
»Sind wir in einem Krankenhaus? Ist mir was passiert?«
»Nein, Mama. Mach dir keine Sorgen. Alles ist gut.«
Mrs. Martinez streckte die Hand aus und streichelte den rasierten Kopf ihrer Tochter. »Was ist geschehen? Wer hat dir das angetan?«
Nora küsste die Hand ihrer Mutter. »Niemand, Mom. Das wächst schon wieder nach. Bald ist es wieder so wie früher.«
Ihre Mutter blickte sie eine Weile mit ernster Miene an, dann sagte sie: »Werden wir sterben?« Und Nora wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie schluchzte leise, und ihre Mutter nahm sie in die Arme. »Nicht weinen, mein Liebling. Nicht weinen.« Dann sah sie ihrer Tochter wieder in die Augen und sagte: »Weißt du, wenn ich auf mein Leben zurückblicke, dann erkenne ich, dass Liebe die Antwort auf alles ist. Ich liebe dich, Nora. Das wird uns für immer bleiben.«
Bald darauf schliefen sie gemeinsam ein, und Nora verlor jegliches Zeitgefühl. Als sie aufwachte, wurde der Himmel bereits heller.
Was nun? Sie saßen in der Falle. Kein Vasiliy. Kein Eph. Nur das kleine Messer …
Nora sah es sich noch einmal an. Ja, sie würde zu Barnes gehen und … Wer weiß, vielleicht würde sie es sich auch selbst ins Herz stoßen.
Dafür war es aber noch nicht scharf genug. Nora legte die Klinge wieder an den Beton und rieb sie hin und her.
Manhattan
Die Stanford-Abwasserwiederaufbereitungsanlage lag unter einem sechseckigen Backsteingebäude auf der La Salle Street zwischen Amsterdam Avenue und Broadway. Die Anlage war im Jahre 1906 erbaut worden und damals darauf ausgelegt, mindestens ein Jahrhundert lang mit dem Wachstum Manhattans mithalten zu können. Während der ersten zehn Jahre hatte sie eine Milliarde Liter Abwasser pro Tag verarbeitet. Der massive Zustrom von Menschen durch zwei aufeinanderfolgende Weltkriege jedoch hatte sie bald an ihre Kapazitätsgrenze gebracht. Außerdem hatten sich die Nachbarn über Atemprobleme, Augeninfektionen und den widerlichen Schwefelgeruch beschwert, der rund um die Uhr aus dem Gebäude aufgestiegen war. Und so wurde die Anlage 1947 teilweise und fünf Jahre später vollständig stillgelegt.
Und trotzdem hatte sie immer noch etwas Majestätisches: ein Industriedenkmal, wie es nur die Architektur der Jahrhundertwende hervorbringen hatte können. Zwei Stahltreppen führten zu den Stegen über den gusseisernen Filter becken, die kaum Spuren von Vandalismus aufwiesen; verblasste Graffiti, eine dicke Schlickschicht, Haufen von vertrocknetem Laub, die Hinterlassenschaften von Hunden und einige Taubenkadaver waren die einzigen Hinweise darauf, dass die Kläranlage seit etlichen Jahrzehnten nicht mehr in Betrieb war. Gus hatte sie im letzten Jahr eher durch Zufall entdeckt – und hatte eines der Becken zu seinem persönlichen Waffenlager umfunktioniert. Um hineinzukommen, musste man sich erst durch einen schmalen Tunnel zwängen und dann eine eiserne Schleuse öffnen, die mit einer schweren Kette gesichert war.
Der Mexikaner wollte Eph und Vasiliy stolz seine Waffensammlung präsentieren – dass sie für den Angriff auf das Lager ausreichend gerüstet waren –, aber Eph war nicht mit gekommen; er brauchte etwas Zeit für sich allein, nachdem er nach zwei Jahren Angst und Verzweiflung endlich seinen Sohn wiedergesehen hatte: an der Seite seiner Vampirmutter, an der Seite des Meisters … Vasiliy hatte dafür Verständnis gezeigt –
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