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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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unteren Ende mit schmalen Simsen versehenen Fenster vom dunklen Bereich der Diele, der getäfelten Wand und den in sie eingelassenen Türen. Ich drehte mich von Gunthers zu Etzels Thron. Unter Siegfrieds blutender Wunde eine schmale Tür in der Mauer, Garderobe wohl oder Toilette, unter dem geharnischten Hagen, der auf den aus der Quelle trinkenden Siegfried einschlug, die zweite Tür, eine dritte unter Brunhild und Kriemhild auf den Treppenstufen des Speyrer Doms, die vierte, angelehnt nur, unter Alarich, dem kleinwüchsigen Zauberer, der Siegfried die Tarnkappe reicht und sich dabei abwendet, als ob er schon wüsste, was er in Gang setzt. Er rief mir in Erinnerung, dass Heimlichkeit und Verrat im Nationalepos der Deutschen den Grund bilden, und ich stieß, weil das Zimmer unter Alarichs Fenster nicht geschlossen war, die Eichentür auf. Die Größe des Speisesaals überraschte mich. Die zahlreiche Gesellschaft, die ich hier antraf. Ihre falsche Stille. Sie saßen an einer langen Tafel einander gegenüber. In Konversation gebeugt. Aber sie atmeten nicht. Mit dem eigenen Teller im Zwiegespräch. Aber das Essen duftete nicht. Sie trugen Kleider nach den Moden aus mindestens drei Jahrhunderten. Sie waren starr. Sie bemerkten mich nicht. Sie schwiegen. Keine Stimme. Kein Besteckklirren. Kein Gläserklang. Und doch war der Tisch gedeckt, und vor dem breiten Fenster im entferntesten Teil des Saals, hinter dem sich das weiße Oktogon im Garten erhob, waren die Gäste am schmalen Ende der Tafel noch als Silhouetten erkennbar. Ich wollte mich für mein ungeladenes Eintreten entschuldigen, als ich an dem mir zunächst sitzenden älteren Herrn im Gewand eines Kardinals den künstlichen Glanz auf der Wange sah. Dann erst die Augen, alle starr ohne Lidschlag. Ich war bereit, meiner Phantasie zuzuschreiben, was ich zu erleben schien. Doch sie überzeugten mich, dass sie aus der Zeit, ich aber in der Gegenwart war, ich wirklich, sie künstlich: eine groteske Gesellschaft aus Puppen. Ich lief an ihnen entlang, hinter ihren Rücken vorbei mit dem Bedürfnis, grüßen zu wollen. Jeder Gast trug sein reiches Kostüm, als sei er aus fremder Zeit überstellt worden, jeder war liebevoll in eine besondere Haltung gebogen, manch einer hob die Gabel zum Mund, mit kleinem Fleischstück oder dem Häppchen Gemüse, das, wie die Speisen auf Tellern und Platten und in den Schüsseln, aus Kunststoff zubereitet, raffiniert angerichtet und unvergänglich war – wie auch die Gestalten: Schaufensterpuppen, keine der anderen gleich. Hinten im Saal, wo das Fensterlicht die leichte Staubschicht auf allem sichtbar machte, war ein Stuhl frei zwischen einem jungen Mann im silbernen Anzug eines der frühen Astronauten und einer Dame, die mit Bildern der Madame Pompadour Ähnlichkeit hatte.
    Ich setzte mich, beugte mich vor, sah die lange Tafel hinunter zur Tür und konnte nun in der Schneise zwischen den Gedecken und Köpfen erkennen, dass hier ein Künstler am Werk gewesen war: Die Variation der Hände, ihre Neigung, Drehung, ihre verlegenen Gesten, ihre Konzentration auf den Teller, ihre Deutung im stummen Gespräch waren sinnvoll erdacht und wirkten, weil jede Wiederholung vermieden worden war, ergreifend natürlich. Der eingefrorene Augenblick machte mich selber starr, und, wenn auch nur kurz, spürte ich in mir die Verführung: einer von ihnen zu werden, von der Vergänglichkeit erlöst. Was ich scheinbar auf immer vergessen hatte, fiel mir wieder ein: meine Kinderfrage an meine Mutter, warum denn der Prinz Dornröschen nicht einfach schlafen ließ … Ich weiß nicht, wie lange ich da saß, mich dem Anblick der Gesichter hingab und träumte. Irgendwann stand ich auf, nahm einen kleinen silbernen Löffel, schlug ihn an ein Glas, dankte für die Einladung und verließ das Dîner der Puppen, in der Tür zur Halle noch mit dem Gefühl im Rücken, dass sie alle mir ihre Köpfe nachdrehten. Muss ich Ihnen schreiben, lieber Freund, dass die Szene mich trotz meiner zur Schau getragenen Haltung ängstigte? Ich wollte die Toilette aufsuchen, fand sie, wie erwartet, hinter der kleinen Tür unter dem Fenster, das Siegfrieds aufgebahrte Leiche mit der blutenden Wunde zeigte. Das Kabinett war von einer Dame in russischgrünem Samtkleid okkupiert, die, sich mit der Linken auf dem Waschbeckenrand aufstützend, das Gesicht unter feuerrotem Federhütchen vor den Spiegel beugte und mit der Rechten gerade einen Lippenstift hob, dessen Rot bläulich gegen das des

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