Die Nacht der Haendler
Hütchens abstach. Wie Sie sich denken können, erschrak ich, trat sofort zurück, lachte mich aus, weil ich erneut auf den Anblick einer Puppe hereingefallen war. Es kostete mich Überwindung, hinter ihrem Rücken vorbei wieder einzutreten und in ihrer Anwesenheit meinem Bedürfnis nachzugeben. Möglich, dass ich um Entschuldigung bat, weil sie mich im Spiegel beobachtete. Durch Küche und Gang zurück, gelangte ich aus der Pforte ins Freie. Der Regen hatte aufgehört, hell und saftig glänzend lag der Kiesweg vor mir. Ich lief an der Hecke des Gräberhains vorbei zum »Allerwirklichsten«, dem gläsernen Tempel des Antimago. Die hohen Scheiben der Seitenwände und des zum Prisma gefügten Daches flirrten im Licht der Wassertropfen. Das Oktogon erhob sich vor mir wie ein ungeheurer Kristall. Die Flügel der Bronzetür standen weit offen. Ich zögerte kurz, hob den weißen Innenvorhang zur Seite und trat ein.
Als stürzte man in ein unter den Füßen liegendes All: Der mattschwarze Steinboden dort macht jeden Schritt ungewiss. Die weißen Stoffbahnen, von der inneren Spitze des Oktogons in raffinierter Bündelung unter die acht riesigen Glasdreiecke des Daches gespannt und sich aus engen Falten zu glatten Vorhängen weitend, die an den sieben Glaswänden herabfielen und auch die Innenseite des Bronzetores verhängten, stießen bündig an die Schwärze des Bodens. Wie Himmel an Unterwelt stößt.
In der Mitte des achteckigen Fußbodens erhob sich eine vierseitige Pyramide fast bis unter die gläserne Spitze des Oktogons. Die Kanten der Pyramide Zackenlinien, die Seitenflächen Treppen, ganz verhüllt von einem sorgfältig genähten Bezug aus schwarzem Samt, als habe ein Schneider hier Bahn für Bahn, Stufe für Stufe, die Streifen vermessen, geschnitten, die Nähte gesetzt, das ganze Monument derart mit einem Kleid versehen, das straff die vier spitz zulaufenden Treppen umschloss und, außer durch die Gewalt einer Schere, nicht mehr entfernt werden konnte. Die Seitenlänge des Pyramidenfußes maß vielleicht vier große Schritte, die Höhe betrug, wie mir schien, das Doppelte der Breite und Länge. Aber ich würde lügen, wollte ich behaupten, dass ich in jenem Augenblick über den nötigen Verstand zum Maßnehmen verfügt hätte. Ich war gar nicht bei Sinnen. Mir stand ein Bild vor Augen, dessen Wirkung ich kaum zu beschreiben vermag. Jede Stufe der Treppen war nämlich mit einer unerklärlichen Fülle aus Farben und Mustern belegt, als habe da auf dem schwarzen Tuch ein Künstler, nein, eine Gruppe von Meistern all ihre Phantasie vereinigt. Gärten, Wüsten, Meere, was auch immer Licht und Schatten bereithält, von filigraner Linie bis zu den Klecksen des Zufalls, bildeten einen bunten Pelz, ein Farbspiel aus heiterstem Übermut und Kirchenstille. Langsam begriff ich: Die Stufen waren mit Abertausenden von toten Schmetterlingen bedeckt. Sie lagen, die Flügel ausgebreitet, einander überlappend auf dem schwarzen Samt, aller Leichtigkeit beraubt, als hätten sie sich an diesem Ort zum Sterben versammelt. Bunt war hier die Trauer. Ich habe Ihnen, glaube ich, in Paris einmal erzählt, dass mein Vater ein Entomologe war. Und in dem Maße, wie Söhne sich für die Berufe der Väter interessieren, hatte auch ich mich, um dem Vater widersprechen zu können, eine Zeit lang für Insekten begeistert. Es war das einzige Thema, bei dem ich ihn geduldig erlebte. So erkannte ich einige der Arten wieder, Tagpfauenauge und Trauermantel, Zitronenfalter und Fuchs, den Totenkopfschwärmer Acherontia atropus , einen Bärenspinner, den kleinen Aurorafalter Anthocharis cardamines , den Schwalbenschwanz, gelb, schwarz und blau, mit ziegelrotem Augenfleck auf jedem Hinterflügel, einer der wenigen Ritterfalter in der Gegend meiner Jugend. Aber weitaus die meisten waren mir unbekannt. Der diesen Berg aus Schmetterlingsleichen aufgetürmt hatte, musste Sammlungen aufgekauft oder sein Leben lang in allen Gegenden der Erde mit dem Netz auf Jagd gegangen sein. Langsam umlief ich den Sockel der Schmetterlingspyramide. Auf den kürzeren Stufen ihres oberen Teils lagen Exemplare von solcher Größe, wie sie nur in den Tropen vorkamen, ihre Flügel leuchteten saphirblau und karmesinrot, golden und lila, und aus meinem Blickwinkel schien mir, als ob an der Pyramidenspitze keine Schmetterlinge lägen, sondern Orchideen blühten. Das ganze Bauwerk wirkte auf mich wie ein bedrohliches Wunder, ein abstoßend schönes, faszinierend trauriges und
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