Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
Vom Netzwerk:
Druglicence für Phantasiearbeiter, die er nie zurückgegeben hatte, aus der Brieftasche zu nehmen. Er hätte sich in seinen Wagen setzen, den Dume Drive hinunter zur Kreuzung Heathercliff am Pacific Coast Highway fahren und kurz vor der Ampel links auf den Parkplatz des Allshops einbiegen können. Natürlich hätten sie sich gewundert an der Kasse, wenn sie ihm am helllichten Morgen zwei Flaschen Wodka und eine Stange Zigaretten, drei Schachteln Aspirin und eine Fünfzigerpackung Highclimb oder Bestmood einpacken mussten. Keiner im Laden erinnerte sich an seine früheren Rationen und niemand würde ihn jetzt besorgt mit dem »Wollen Sie denn wirklich wieder anfangen«-Blick anstarren. Er schüttelte den Kopf. Er starrte hinaus auf »Mermaid’s Triangle«. Noch genau sechzehn Tage, und die Sonne würde abends auf der Mitte der Hypotenuse des Dreiecks aufsetzen, sich zu einem liegenden, glühenden Ei verformen und dann hinabgezogen werden in den Winkel. Zwei Tage später würde sie schon an die rechte Flanke des Canyon schrammen und wirklich für einen Augenblick eine kleine, wie herausgebissene Stelle in die Felswand spuren – wirklich? War es die Wirklichkeit? Er hatte versucht, den Überblendungseffekt als Realität nachzuweisen. Sein Bilderhass, seine alte Wirklichkeitssucht aus der Zeit, in der er noch überzeugt war: ein Antimagist, und doch schon mit einer Kopfhälfte draußen aus dem weltweiten Bildersturm, schon Renegat, schon Verräter, zugleich noch Vertrauter des Antimago und doch immer als zweites Ich neben sich stehend mit der Frage: Was tust du da eigentlich? Das azurblaue Dreieck des Pazifiks ließ Sir Dschejdschej zurückdenken an Jahre voller Begeisterung und Skepsis, Gewissheit und Widerspruch. Orte blendeten auf, schlossen sich, sein Verbrechen vor dem Mailänder Dom, wo er am helllichten Morgen den schwedischen Architekturfotografen Olov Sundquist auftragsgemäß zur Strecke gebracht hatte. Einen Künstler des Lichts, wie er selbst einer war … Ohne Widerstand ließ er sich in die eigene Geschichte ziehen, als führte ihn schon der Tod. Wieder klang zwischen seinen Schläfen Tschaikowskys »Ouvertüre 1812« auf, weitete sich die Hollywood Bowl , hoben sich hinter dem Orchester die glühenden Lichtfontänen, Kaskaden und Blitze des Feuerwerks, knallten zugleich mit dem theatralischen Donner der Revolutionskanonen die Schüsse, unter denen der deutsche Dirigent Maxim Leiblich zusammenbrach; und das Publikum raste, weil man den Tod für einen gelungenen Teil der Show hielt, bis die Bomben zwei der Fernsehkameras zerfetzten. Da erst hatten die ersten der im weiten Rund zu Musikgenuss und Picknick Versammelten den Ernst der Lage begriffen, das Orchester und die militärische Bigband spielten in dem ungeheuren Lärm weiter, als hätten sie noch einen Dirigenten, unter die Klänge der Marseillaise mischten sich Schreie, nach allen Seiten flüchteten Zuhörer aus dem Kessel, in den vorderen Reihen sprangen sie über die Trennwände der Boxen, an der Bühnenrampe kniete der erste Geiger, hielt Maxim Leiblichs Kopf in seinen Schoß gebettet und sah zu, wie der Dirigent starb, während das frequenzprogrammierte Feuerwerk den blaurosa Abendhimmel mit immer neuen Funkenstößen und brennenden Blüten aufriss. Tonnda sah sich wieder in einer Box der zweiten Reihe stehen. Er schämte sich. Die Hinrichtung eines Dirigenten, auch wenn der vom größten amerikanischen Fernsehsender Daytel gesponsert war, widersprach seiner eigenen Neigung zur Musik.
    Er hatte sanft protestiert, als im Hohen Tribunal, dem er gerade erst vier Monate angehörte, das Urteil gegen Leiblich gefallen war: Die Musik erkläre die Welt nicht, sie sei selbst Welt, sie brauche keine Bilder, sie sei nicht die Feindin der Wirklichkeit, sie sei selbst eine Wirklichkeit! Zwischenruf des jüngeren und damals blonden Hans Stieftaal: »Kunst ist Lüge!« »Du bist ein nichtsnutziger, kleiner Ignorant«, hatte Jens Jakob von Tonnda leise gesagt. Reeper hatte sich vom erhöhten Stuhl herab eingemischt: »Leiblich ist ein Agent der Weltfälscher, ein Judaslohnempfänger von Daytel . Dass er ein großer Dirigent ist, steht außer Zweifel, ich liebe seine Aufnahmen, aber das macht es um so schlimmer. Wir werden zeigen, dass keine künstlerische Größe verschont bleibt, wenn sie die Wirklichkeit verrät!« Noch einmal hatte Tonnda damals versucht, den Lauf in den wahllosen Terror aufzuhalten. »Ihr wisst«, sagte er, und er hatte sich bemüht, ruhig

Weitere Kostenlose Bücher