Die Nacht Der Jaegerin
Jagd, wirklich. Falls die Jagd wegen Schneesturm oder einer Erkrankung abgesagt werden musste, bekam sie
sehr
schlechte Laune.»
«Haben Sie das selbst einmal miterlebt, Leonard?»
«O ja. Ich kam vierunddreißig nach Stanner, ein Jahr nachdem der alte Herr gestorben war. Ich war schon bald Mrs. Hatties rechte Hand, wie sie gern sagte. Oder ‹mein Knappe›. Sie sprach von sich, als wäre sie ein Ritter. ‹Mein Knappe›, ja. Ich war ihr Knappe.»
«Schlechte Laune?»
«Wie?»
«Sie sagten, Mrs. Hattie habe sehr schlechte Laune bekommen, wenn die Jagd abgesagt wurde. Wie war sie dann?»
«Schlechte Laune ... schwarzer Hund.» Leonard biss sich auf die Unterlippe und starrte in eine unbestimmte Ferne. Seine Augen waren von einem wässrigen Hellblau.
«Was bedeutet das?», fragte Ben.
«Sie hat immer gesagt, sie wäre mit dem schwarzen Hund herumgezogen. Das war so ein Spruch von ihr. Sie kam zurück, der Stallbursche übernahm ihr Pferd, dem der Schweiß auf dem Fell stand, und sie sagte: ‹Bring mir einen Drink, Leonard. Heute war der schwarze Hund in der Meute.›»
«Und was hat sie damit gemeint?»
«Na ja, das war eben einer von ihren Sprüchen.»
«Aber meinte sie einen echten ...»
«Es bedeutete, soweit ich es verstanden habe, dass sie an diesem Tag einen wilden und gefährlichen Ritt absolviert hatte, Mr. Foley. Und wenn sie noch dazu keine Beute erlegt hatte, war sie nicht gerade bester Laune.»
Leonard schwieg lange Sekunden, bevor er hinzusetzte: «Und das bekam Mr. Robert bald zu spüren.»
Nach einer weiteren Pause fragte Ben: «Was hat sie mit Mr. Robert gemacht, Leonard?»
«Er ...» Leonard leckte sich über die Lippen. «Am nächsten Tag hatte Mr. Robert zum Beispiel ein blaues Auge oder eine aufgeplatzte Lippe. Oder Kratzer auf der Wange. Oder alles zusammen. Das waren die Verletzungen, die man sehen konnte.»
«Sie könnte ihn also noch schwerer verletzt haben?»
Leonard nickte. «Manchmal hinkte er auch.»
«Und das passierte, nachdem sie
mit dem schwarzen Hund herumgezogen war
», sagte Ben mit starker Betonung.
Leonard schwieg.
«Und wo haben sie gejagt, Leonard? Oben auf dem Ridge?»
«Oh, überall. Die Bauern aus der Gegend konnten es sich nicht erlauben, was dagegen zu haben, dass sie quer über ihr Land ritten.»
«Der ...» Ben unterbrach sich, überlegte, wie er die Frage stellen konnte. «Leonard, wenn sie ‹schwarzer Hund› sagte, glauben Sie, dass sie damit irgendwie auf den
Hund von Hergest
anspielte?»
Leonard lächelte.
«Sie kennen diese Legende doch, oder?»
«Natürlich kenne ich sie.» Seine Miene war wieder ernst geworden. «Und den ganzen verdammten Unsinn.»
Mindestens zwanzig oder dreißig Sekunden herrschte Stille.
«Unsinn», wiederholte Leonard dann.
«Was meinen Sie damit?»
«Es wurde eine Menge Unsinn geredet, als sie ... als sie starben.»
«In welcher Hinsicht?»
«Oh ...», sagte Leonard ärgerlich, «zum Beispiel hat eines der Zimmermädchen behauptet, es hätte den Schatten eines großen schwarzen Hundes über den Rasen gleiten sehen.»
«Als Hattie und Robert starben?» Ben ließ seine Stimme vollkommen ausdruckslos klingen.
«Nein, davor. In der Nacht davor, beziehungsweise kurz bevor es richtig dunkel wurde. Und am Abend
davor
auch. Jedenfalls hat sie das behauptet. Blanker Unsinn, Mr. Foley. Alte Legenden werden immer nachgebetet und übertrieben, besonders auf dem Land. So etwas wollen Sie doch nicht in Ihrer Sendung haben, oder?»
«Und Hattie ... sie kannte die Legende doch auch.»
«Ach.» Leonard klang beinahe erbittert. «Sie hatte keine Zeit für
Legenden.
Geschichte, das war es, was sie interessierte. Sie sagte immer, das hier sei ihre Heimat, und hier wären ihre Wurzeln – obwohl sie das nicht waren, weil Stanner damals noch ein recht neues Anwesen war, auch wenn es alt aussah. Aber sie kannte ja nichts anderes, sie war auf Stanner geboren, also hatte sie auf eine gewisse Art recht, finde ich. Und sie ist immer in die Kirche gegangen und hat sich die Gräber angesehen.»
«Warum?»
«Ich war nie dabei, Mr. Foley. Ich war nur der Butler, und davon abgesehen auch nie ein großer Kirchgänger.»
«Und was war mit Mrs. Chancery? War sie eine Kirchgängerin?»
«Nun ja ... sie ist in die Kirche gegangen. Allerdings kaum zu den Gottesdiensten, wenn sie nicht gerade etwas mit der Jagd zu tun hatten.»
«Leonard, warum ist sie denn in die Kirche gegangen, wenn kein Gottesdienst war?»
«Um sich
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