Die Nacht Der Jaegerin
hören.»
Damals hatte er kurz davor gestanden, alles aufzugeben und wieder in die USA zu gehen. Dann war ohne jede Vorwarnung seine Schwiegermutter bei ihm aufgetaucht, die er noch nie zuvor gesehen hatte, und so erfuhr er endlich, was wirklich zwischen Catherine und ihrem Vater geschehen war.
«O Gott», sagte Sophie.
«Sie waren beide sehr begabt, und ihre Gespräche waren das reinste intellektuelle Feuerwerk. Er war begeistert von ihrem brillanten Verstand. Als sie in Oxford studierte, besuchte er sie übers Wochenende.»
Sophie schnaubte.
«Jeavons hat erzählt, er hätte oft gedacht, es gäbe einen anderen Mann in ihrem Leben, jemanden, den sie nicht vergessen konnte. – Und da traut sich der Vater, ihm etwas von einem ‹unpassenden Freund› zu erzählen. Ein unpassenderer Freund ist ja kaum vorstellbar.»
«Das ist in den sogenannten gebildeten Kreisen häufiger, als wir gern glauben wollen», sagte Sophie.
«Der Grund, aus dem Catherines Mutter zu Jeavons kam, war, dass sie selbst Probleme hatte. Möglicherweise rührten sie von Schuldgefühlen her, die sie entwickelt hatte, weil sie die Familie verlassen oder weil sie Catherine insgeheim auch Schuld gegeben hatte. Das ist verständlich. Lew hat einen anderen Pfarrer dazugeholt, einen Freund, um das Pfarrhaus zu segnen und in Catherines Schlafzimmer Weihwasser zu verspritzen. Dann haben sie zusammen mit ihrer Mutter eine Seelenmesse für Catherine abgehalten. Und das hätte das Problem unter normalen Umständen lösen müssen.»
«Hat es aber nicht?»
«Es ist schlimmer geworden. Er ist nicht ins Detail gegangen. Aber er hat danach viel und intensiv gebetet, um eine Antwort zu erhalten. Und er hat sich einer Art ritueller Folter unterzogen, indem er in Catherines Schlafzimmer übernachtet hat ... er hatte nämlich das Gefühl, dass es
ihr
Zimmer war, verstehen Sie?»
«Das Zimmer von Catherine und ihrem Vater?»
«Jeavons glaubte, dass Catherines Besuch in dem Sterbehospiz – selbst wenn der Vater nicht mehr bei vollem Bewusstsein war – zu einer Art Öffnung geführt hatte. Irgendetwas war zurückgefordert oder erneuert worden. Ihr Vater hatte sie zurückgewollt. Verstehen Sie?»
«Das ist ja schrecklich, Merrily. Pervers.»
«Lew wusste nicht, was er machen oder an wen er sich um Rat wenden sollte. Also hat er einfach weitergebetet und weiter in Catherines Zimmer geschlafen. Er beharrt darauf, dass wir oft leiden müssen, um heilen zu können. Ein Geistlicher muss leiden, ohne zu klagen, bis sich etwas ändert.»
Sophies Blick war leicht beunruhigt und wurde dann streng: «Ich weiß nicht, ob Sie das wirklich tun müssen, Merrily.»
«Erzählen Sie einer Frau etwas von der Notwendigkeit zu leiden, und Sie wecken ihre tiefsten Instinkte. Jedenfalls hat Lew eines Nachts die Erkenntnis gehabt, dass er eine Seelenmesse für die Person abhalten müsse, die er inzwischen glühend hasste: für H. F. H. Longman. Also haben sich Lew Jeavons, seine Schwiegermutter und Jeavons’ Exorzistenkollege zusammen mit zwei anderen Geistlichen in dem Schlafzimmer versammelt.» Merrily hielt inne.
«Und?»
«Er hat erzählt, dass er an diesem Abend das letzte Mal in Catherines Zimmer übernachtet hat. Wie üblich wachte er mitten in der Nacht auf, aber dieses Mal hatte er nicht mehr den Drang zu beten. Er hat sich einfach nur umgedreht ... und die andere Hälfte des Bettes war warm. Da ist er aufgestanden, hat das Bettzeug genommen und ist in das alte Schlafzimmer zurückgegangen.»
Sophie beugte sich vor. Merrily spürte heiße Tränen auf ihren eigenen Wangen und war irgendwie irritiert.
«Er hat mir ein Buch gegeben.
Familienschuld und Heilung
, von Kenneth McAll. Mir sagte zwar der Titel was, ich hatte es aber nie gelesen. Die Grundthese ist, dass die geistige und körperliche Gesundheit eines Menschen oft von seinen Vorfahren beeinflusst wird. Mama und Papa verkorksen einen, genau wie sie zuvor von ihren Eltern verkorkst worden sind.»
«Die Gene.»
Merrily schüttelte den Kopf. «Na ja, das vielleicht auch ... Jedenfalls hat Jeavons sich jahrelang intensiv mit diesem Themenfeld beschäftigt, hier und auch in anderen Ländern. Er hat Kulturen besucht, in denen es bis heute außerordentlich wichtig ist, die toten Vorfahren zu beschwichtigen. Seine Erkenntnisse sind natürlich auf Widerspruch gestoßen, weil einige dieser Kulturen mehr oder weniger heidnisch geprägt sind.»
«Er glaubt, dass der Vater seiner Frau aus dem Grab heraus ihr
Weitere Kostenlose Bücher