Die Nacht der Uebergaenge
Besitz vermutet hatte, lag halb unter ihr auf dem Boden
und überall waren die abgeschnittenen Überreste ihres wunderschönen Haars.
„Kind, was hast du getan?“ Aubrey beugte sich mit Entsetzen zu ihr
herunter, nahm vorsichtig eine Hand nach der anderen auf, um sich die Wunden
anzusehen, die er unbedingt mit etwas verbinden musste, da er vermutete, ihnen
beiden könnte es schlecht bekommen, wenn er die Stellen einfach so gesund
leckte.
Das hatte nichts mit der Furcht vor Damon zu tun, dessen Duft eindeutig
in ihrem auszumachen war, sondern eher mit Nico selbst. Dafür, dass sie
eigentlich so unschuldig war, besaß sie eine Verführungskraft, die mit nichts
zu vergleichen war, das Blake je erlebt hatte. Und er bewegte sich seit über
fünfhundert Jahren in dem erlauchten Kreis der Immaculates, war mit einer
Patrona verheiratet und genoss selbst höchstes Ansehen als Tuchmacher, obwohl
er gegen den Willen seines Vaters Apotheker gelernt hatte. Im Gegensatz zu
vielen Betrügern hatte er den armen Seelen während der Pest zu London helfen
wollen. Immerhin war er als Immaculate immun gegen die Seuche gewesen. Jedoch
war ihm stets nur Linderung von Leid gelungen, niemals die ganze Heilung. Er
wusste nur zu gut um den Reiz des Schönen. Nico stellte allerdings alles in den
Schatten.
Aubrey hob sie auf seine Arme. Es war ihm egal, ob sein Anzug dadurch,
dass er sich ihre Arme um seinen Hals legte, ebenfalls ruiniert wurde. Er hatte
Dutzende, Hunderte davon. Außerdem hielt sich seine Eitelkeit im Gegensatz zu
der seines Sohnes in ganz klaren, überschaubaren Grenzen.
„Was hast du nur getan?“, flüsterte er ihr noch einmal zu, obwohl sie
bei der Bewegung ihres geschundenen Leibes nicht eine Regung zeigte. Blake
tastete nach ihren Gedanken, doch in Nicos Kopf herrschte im Gegensatz zu
vorher eine Stille, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
So schnell er konnte, trug er sie zurück in ihr Zimmer. Auch hier lag
das ausgestandene Leid immer noch in der Luft. Es roch nach Seife, Zimt und
überreifen Pflaumen. Ihr Kleid, das sie am Abend getragen hatte und sorgfältig
über einem Stuhl hing, stank fast genauso furchtbar wie das untere Stockwerk,
in dem gefeiert worden war. Nico in diesem kaputten Zustand in diesem Zimmer zu
lassen, war für ihn nicht zu ertragen. Er fühlte sich verantwortlich für Damons
Handeln, der nun offensichtlich Mist gebaut hatte und auch für das Opfer, was
er selbst trotz mehrerer Gelegenheiten nicht verhindert hatte. Er hätte sie
aufhalten müssen. Ein Schreck in der Morgenstunde wäre niemals so schlimm
gewesen, wie das, was das Mädchen sich selbst zugefügt hatte.
„Was hat er dir nur angetan?“
Aubrey bettete sie vorsichtig auf ihr Bett, legte ihr behutsam die
zerschnittenen Hände auf die Brust. Hinter ihm flammte durch seinen Willen das
Kaminfeuer auf und das erste, was er tat, war das Kleid zu nehmen und es in die
Flammen zu werfen, die es gierig ohne jegliche Rücksicht einem Dämon gleich
auffraßen. So wie Damon Nico genommen hatte.
Danach öffnete er die Fenster, damit die klare Morgenluft hineinkam und
alles Schlechte hinaus spülte. Im Bad fand er frische Handtücher und einen
sauberen Waschlappen. Im Schlafzimmer stand zur hübschen Dekoration eine
Waschschüssel samt Wasserkrug aus bemaltem Porzellan. Aubrey stellte den Krug
auf den Boden, nahm die Schüssel heraus, um diese im Bad mit warmen Wasser zu
füllen, um das immer noch ohnmächtige Mädchen damit waschen zu können. Als er
ihre Hände säuberte, blutete es nach.
Frisch und rein, überwältigend für seine Sinne. Aubrey konnte nicht
länger widerstehen. Er vergaß, dass er aus einem der Handtücher einen Verband
hatte reißen wollen. Stattdessen versicherte er sich, dass Nico immer noch tief
im Land der Träume und Visionen weilte, nahm dann ihre Hände, hob sie an seine
Lippen und die Köstlichkeit ihres Lebenssaft raubte ihm schier den Atem. Es
benebelte ihn wie eine Droge. Nur mühsam brachte er es fertig, die langen
Querschnitte mit seinem heilenden Speichel zu benetzen, ohne mehr von diesem
puren Sündenquell herauszusaugen.
Die kaputte Haut erneuerte sich fast augenblicklich. Wenn er genau
hinsah, konnte er zusehen, wie sich die Zellen Stück für Stück regenerierten.
Blake hätte doch in der Medizin bleiben sollen. Es war immer wieder
faszinierend, bei so etwas zuzusehen. Einem letzten, unbedachten Impuls folgend
beugte er sich über Nico und küsste sie auf den Striemen ihrer Wange.
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