Die Nacht der Uebergaenge
all die Erinnerungen des
Abends, das Weglaufen, die zugefügten Schmerzen und die Schuld, die sie empfand
kehrten wie ein Donnerschlag zurück. Vielleicht schlimmer als vorher, da sie
nicht begreifen konnte, wie sie in ihr Zimmer und ins sichere Bett gekommen
war, nachdem sie doch vorhin im Altarraum.
Aubreys Herz verspürte ebenfalls einen leisen Stich, als er die Tränen
in ihren Augen glitzern sah. Sie bemühte sich sehr, tapfer zu sein. Dabei war
sie momentan nichts weiter als ein armes, kleines Bündel Mensch, dem man übel
mitgespielt hatte. Er musste sie nicht lesen, um das zu wissen. Nico troff
förmlich über vor traurig negativer Energie, die auf ihn einströmte und
förmlich in den Sitz des Stuhls presste.
Sie tat ihm unendlich leid. Er wollte ihr so gern helfen. Was aber wohl nicht
in seiner Bestimmung lag.
Nico fühlte sich seltsam erschöpft, ihre Glieder waren schwer und ihre
Gedanken verloren sich in einem nebligen Strudel. Ein eigenartiges Gefühl
machte sich in ihrem Körper breit, als würde eine Kernschmelze in ihrem Inneren
stattfinden und zugleich fühlte sich ihre Haut eiskalt an, so dass sie
erschauerte, obwohl sie unter einer wärmenden Decke lag. Als Krankenschwester
wusste sie, dass Blutverlust mit einem Kältegefühl einherging, aber durch die
Hände konnte sie auch nicht so viel verloren haben, dass es bedenklich für ihre
Gesundheit wäre. Außerdem war ihr innerlich so heiß, als würde sie Fieber
bekommen.
Langsam drehte sie sich auf die andere Seite und seufzte tief auf, als
sie eine weiße Gestalt an ihrem Bett sitzen sah. Obwohl es im Zimmer sehr
schattig war, das nur von den Flammen im Kamin erhellt wurde, erkannte sie die
dunklen Flecken auf dem sonst so makellos weißen Anzug als Blut. Wäre Nico über
all die Jahre nicht so vielen Geistern begegnet, dann hätte sie den Mann wohl
für einen Engel gehalten. Er wirkte irgendwie überirdisch schön, auch wenn man
das von Männern eigentlich nicht behaupten sollte. Sie hatte um eine Strafe
gebeten und nun hatte sie sie erhalten.
Hättest Du deine Zeit nicht auf dieser Feier
vergeudet, dann…
Nico lächelte traurig, wobei ihre Lippen leicht zitterten. Die Erinnerung kam
zurück. Die Erinnerung an einen anderen Geist, den sie sich nicht eingebildet
hatte, egal wie sehr sie sich das wünschen würde. Die Götter straften niemals
auf die erwartete Weise, sie fanden Wege, den Menschen ihre Schwächen
unerträglich bereuen zu lassen. Man sollte immer aufpassen, was man sich
wünschte, denn die Erfüllung dessen könnte für eine Person zu viel zu erdulden
sein.
Sie setzte sich mühsam auf, während sie wie ein kleines Mädchen die
verschlafenen Augen mit ihren Handballen rieb, um die Müdigkeit darin zu
vertreiben. Trotzdem waren ihre Lider bleischwer, als sie den Mann erneut
ansah, ohne jegliche Scheu zu verspüren. Solche Dinge passierten ihr schon viel
zu lange, um sich darüber noch groß Gedanken zu machen. Für die Seelen der
Verstorbenen war es nicht wichtig, wo sie sich gerade aufhielt, oder sie sie
gerade aussah. Es war gut, dass ihr Vater beizeiten von Mélusina gewusst hatte,
ansonsten hätte er sie wohl als Kind für verrückt gehalten, wenn sie sich mit
Menschen unterhielt, die niemand außer ihr sehen konnte.
„Wie kann ich dir helfen?“, flüsterte sie leise, um den Fremden nicht zu
erschrecken, der vielleicht sein Schicksal noch nicht ganz erfasst hatte, und
hoffte, dass es nicht ein dringender Notfall war, der sie nach New York zwingen
würde, das sie vielleicht nicht rechtzeitig erreichen konnte, weil sie weit weg
in den Catskills weilte.
Das brachte sie dazu, an ihren letzten Einsatz zu denken, so dass ihr ein
schmerzhafter Stich ins Herz fuhr. Nico hob die rechte Hand und legte sie
abwesend auf ihre Brust über der Stelle, worunter ihr Herz stechend gegen ihre
Rippen schlug, um darüber zu reiben, als könnte sie das brennende Gefühl
wegmassieren.
Bilder schossen ihr durch den Kopf. Von blutenden Händen und dem Messer,
mit dem sie ihre Haare abgeschnitten hatte, so dass sie nun wieder aussah wie
damals in Miami, als ihr Papa sie liebevoll „gerupftes Küken“ genannt hatte.
Nico stutzte, weil ihre Hände gar nicht brannten. Sie kannte das Gefühl von
zerschnittener Haut nur zu gut. Es war Teil des Rituals gewesen, als man sie
zur Santera ernannt hatte. Sie starrte verwundert auf ihre Handfläche, die
absolut unversehrt erschien. Die anderen Wunden waren auch perfekt verheilt,
ohne Narben zu
Weitere Kostenlose Bücher