Die Nacht der Uebergaenge
wisperte eine unaufdringliche Stimme, so dass sie die
Augen aufschlug und sich mit einem jungen Mädchen konfrontiert sah, das etwa
vierzehn sein musste.
Romy war irritiert. Manasses als ehrenwert zu bezeichnen,
wäre ihr nicht im Traum eingefallen, auch wenn er sie vorhin anscheinend auf
ihr Zimmer gebracht hatte, aber das Mädchen erstaunte sie noch mehr als alles
andere. Wenn sie das richtig in Erinnerung hatte, waren die Dienstboten, wenn
man sie überhaupt so bezeichnen durfte, in diesem Haus Lost Souls, umgewandelte
Menschen. Allerdings waren sie alle immer erwachsen gewesen… Der Mann in der
Bibliothek war auch einer von ihnen gewesen. Sie vertrugen das Tageslicht nicht
und wurden von den Immaculates beschützt. Viele von ihnen blieben einfach bei
den Familien, die sie gerettet hatten, weil sie nicht allein in der für sie
feindlichen Welt leben wollten.
„Wie ist dein Name?“, fragte Romy, während sie sich langsam
erhob, damit ihr Kreislauf nicht gleich wieder in sich zusammen sackte.
„Dovie, M’am!“, antwortete das Kind artig und machte einen
altmodischen Knicks vor ihr, wobei sie sogar nach dem Stoff ihrer dunklen Hosen
griff, als wären sie ein Rock, den sie lüpfen konnte.
Sie trug das hellblonde Haar an den Seiten zu zwei Zöpfen geflochten, was ihre
Jugend noch zu betonen schien, aber der Ausdruck in ihren Augen passte
irgendwie nicht dazu. Er erinnerte Romy an ihre eigenen Augen, als sie so alt
gewesen war wie das Mädchen vor ihr.
„Wie alt bist du wirklich? Bitte, ich will dir nicht zu nahe
treten… Ich weiß nicht sehr viel über eure Welt… Du siehst so jung aus. Ich
habe aber hier noch gar keine Kinder gesehen… Du musst nicht antworten, wenn du
nicht möchtest!“, fragte Romy vorsichtig, weil sie niemandem beleidigen wollte.
Das Mädchen kicherte verschämt, gab aber bereitwillig
Auskunft. Romy konnte ja nicht wissen, dass ihr Wort für die Bedienstete Gesetz
war. Ihr eigener Status kam ihr völlig fremd vor, eine leere Worthülse, der sie
kaum Bedeutung geben konnte. Sie hatte den Schritt nur getan, um zu überleben
und das Überleben ihrer Schwester zu sichern.
„Es müssen über 120 Jahre sein, verehrte Devena! Ich zähle sie nicht mehr! Ich
war dreizehn oder vierzehn, als Madam Salama mich gerettet hat. Londons Straßen
waren damals sehr gefährlich für junge Mädchen! Ich habe nur überlebt, weil die
Madam über sehr starkes Blut verfügt. Es gibt nicht viele Lost Souls in meinem
Alter… Auch wenn die Aryaner kein Halten vor Kindern machen. Die Immaculate
können nicht alle retten! Kommen Sie? Ich habe Ihnen ein Bad eingelassen, das
sie erfrischen wird!“, wechselte sie dann das Thema, als wäre es vollkommen
alltäglich, was bei Dovie sicher zutraf.
Kinder … Romy wurde
innerlich eiskalt bei dem Gedanken, dass solche Monster, wie sie angefallen
hatten, sich über wehrlose Kinder hermachen könnten. Das war ein schrecklicher
Gedanke.
Dovies Nähe beruhigte ihre Nerven irgendwie. Vielleicht lag es an ihrem
unaufdringlichen Geplauder, das eigentlich gar nicht kindlich war, wenn man genau
zuhörte. Sie schien ziemlich viel über dieses Haus und das Orakel zu wissen.
Unter Dovies kundiger Führung war Romy in Windeseile für ihren letzten Auftritt
an diesem Abend zurecht gemacht. Nach dem Ritual hätte sie nicht mal
Lippenstift mit ruhiger Hand auftragen können.
Sie hatte sich strikt geweigert, ein Kleid mit einem tiefen
Ausschnitt zu wählen. Sie hatte eines anprobiert und gleich wieder verworfen,
weil sie einfach zu üppig gerundet war, was für Sugar noch angehen mochte, aber
bestimmt nicht für eine „ehrenwerte Devena“.
Rys Harper musste sich schließlich nicht von Wildfremden angaffen lassen, die
alle scheinbar mühelos ihre Gedanken lesen konnten. Da konnte sie sich
wenigstens äußerlich etwas mehr bedecken.
Das von ihr gewählte Kleid war so dunkel, dass es fast Schwarz wirkte aber der
Seidensatin schimmerte im Licht dunkelgrün. Es hatte sie an das Abendkleid von
Holly Golightly aus „Frühstück bei Tiffany“ erinnert und sie hatte die
passenden langen Abendhandschuhe dazu geordert, weil sie ja ihre Fähigkeit
nicht im Griff hatte. Wenn sie am Arm des Kriegers den Festsaal betrat wollte
sie von ihm keine Bilder zu lesen bekommen, obwohl einige der Immaculate ihre
Fähigkeit anscheinend blocken konnten.
Es hatte nur einen ovalen Ausschnitt, der ein bisschen Schulter blitzen ließ,
ansonsten war sie bis zu den Knöcheln mit Stoff bedeckt. Die Taille war
Weitere Kostenlose Bücher