Die Nacht der Wölfe
flüsterte sie. »Bist du das, Bones?«
Als keine Antwort kam, tastete sie nach dem Revolver in ihrer Anoraktasche und hatte ihn schon halb herausgezogen, als sich eines der Augenpaare bewegte und ein Schatten sich aus der Dunkelheit löste. Ein hagerer Wolf trat ins Mondlicht, als wollte er sichergehen, dass sie ihn auch erkannte, und setzte plötzlich zu einem langgezogenen Heulen an, das von den anderen Wölfen erwidert wurde und ihr unwillkürlich einen Schauer über den Rücken trieb. Auch wenn Bones als ihr Freund oder Schutzgeist auftauchte, war er immer noch ein Wolf und so unberechenbar wie alle wilden Tiere im Hohen Norden.
Das Heulen hallte wie ein überlautes Echo über die Lichtung und schien sogar den Wind zu beeindrucken, der für ein paar Sekunden aussetzte und erst wieder auffrischte, als der letzte Ton in der eisigen Luft verklungen war. Zu ihrem Erstaunen beobachtete Clarissa, wie ein Augenpaar nach dem anderen verschwand, bis nur noch Bones auf der Lichtung stand, wie immer stolz und breitbeinig, als wäre er nie verletzt gewesen und immer noch der Rudelführer von einst. Hatte er sich auf seine alten Tage ein neues Rudel gesucht? Oder hatten die Augen nur in ihrer Einbildung geleuchtet?
Bones wartete, bis er sicher sein konnte, ihre Aufmerksamkeit zu haben, dann überquerte er die Lichtung und lief so dicht an ihr vorbei, dass sie ihn beinahe berühren konnte. Sie blickte ihm nach und sah den hellen Nordstern über seinen Spuren leuchten. »Bones! Was willst du mir sagen?«, flüsterte sie.
26
Mitten in der Nacht schreckte Clarissa aus dem Schlaf. Sie blickte nach links und sah Dolly in der zweiten Koje liegen; ihr leises Schnarchen war bereits ein vertrautes Geräusch in der nächtlichen Stille geworden. Das Feuer im Ofen brannte noch, anscheinend hatte ihre Freundin noch einmal Holz nachgelegt, als sie von ihrer Feier zurückgekehrt und zu Bett gegangen war. Angenehme Wärme erfüllte den Raum. Die Hunde waren still, nur Smoky jaulte leise vor sich hin.
Clarissa schlug die Decken zurück und stand leise auf. In ihrem langen Nachthemd lief sie barfuß zum Ofen und legte ein weiteres Holzscheit nach. Die Hitze, die ihr aus dem offenen Ofen entgegenschlug, brachte ihr Gesicht zum Glühen. Sie schloss den Ofen und trat ans Fenster, sah die Überreste des Lagerfeuers am fernen Flussufer leuchten. Die Männer schliefen in zwei Zelten, sie hatten sogar altmodische Kanonenöfen in ihr Lager gebracht.
Sie hielt sich mit einer Hand am Fensterrahmen fest und verlor sich mit ihrem Blick in der Ferne. Was für ein Traum, dachte sie, und als sie ihr Buffalo-Bill-Heft auf der Kommode liegen sah, wurde ihr erst recht klar, dass der Traum, aus dem sie gerade erwacht war, eine besondere Bedeutung für sie hatte. Er drehte sich um eine Geschichte, die sogar Alex gelesen hatte, die wahren Abenteuer eines Fallenstellers, der vor mehr als sechzig Jahren in den Rocky Mountains gelebt hatte. Während eines Jagdausflugs, den er mit zwei Freunden unternommen hatte, war er von einem wütenden Grizzly angefallen worden, einem dieser unruhigen Bären, die sogar aus der Winterruhe erwachten und dann besonders bösartig und gereizt waren. Der Bär hatte ihn mehrmals mit seinen Pranken erwischt und dabei so stark verletzt, dass er blutüberströmt in den Schnee gefallen war und ihn seine Freunde für tot gehalten hatten. Vielleicht waren sie auch nur vor dem aufgebrachten Bären geflohen. Sie flohen zu einem Handelsposten und erzählten jedem, der es wissen wollte, dass der Fallensteller von einem Grizzly getötet worden war und tot in den Bergen lag. Die indianische Frau des Mannes war an den Pocken gestorben, aber er hatte einen Sohn, der sich sofort auf die Sache nach der Leiche seines Vaters machte, dort aber nur noch gefrorenes Blut im Schnee finden konnte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich mit dem Tod seines Vaters abzufinden. Doch der Fallensteller war noch am Leben, er hatte sich zu einem Handelsposten geschleppt und war dort verarztet worden. Der Doktor hatte ihm beide Beine amputiert, und er hatte den Rest seines Lebens in einem Heim verbracht. Er hätte es nicht fertiggebracht, seinem Sohn so gegenüberzutreten.
Das fehlende Puzzleteil, nach dem sie während der Rückfahrt gesucht hatte! Die Geschichte, die sie irgendwo in ihrem Gehirn abgespeichert hatte. Ein winziger Anhaltspunkt dafür, dass auch das Unmögliche noch möglich sein konnte, dass er nicht freiwillig in den Tod gegangen war, seinen
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