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Die Nacht der Wölfe

Die Nacht der Wölfe

Titel: Die Nacht der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Ross
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Geschenk machte, bevor sie das Haus betrat. Sie hatte in Dawson City gelernt, welch großen Wert die Indianer auf solche kleinen Geschenke legten.
    Clarissa fühlte sich stark an ihren Besuch bei der kranken Louise erinnert, als sie das Mädchen auf dem Nachtlager liegen sah, nur dass diesmal keine Krankenschwester bei ihr war und sie dem Mädchen allein helfen musste. Caroline war ungefähr vierzehn, beinahe schon erwachsen für eine Indianerin, und die blauen Flecken auf ihren Wangen und ihrem Hals verrieten, dass sie auf übelste Weise misshandelt worden war. Sie hatte ihre Wolldecke bis zum Kinn hochgezogen und starrte mit leeren Augen zur Decke empor, nahm keine Notiz von den weißen Frauen, die alle Erwachsenen, die um das Nachtlager herumstanden, mit einem Kopfnicken begrüßten und neben ihr knieten.
    Selbst in den leeren Augen des Mädchens erkannte Clarissa, welche großen Schmerzen sie erdulden musste. Es war wohl auch die Erinnerung an das, was Frank Whittler ihr angetan hatte, was sie so leiden ließ. »Hallo, Caroline!«, begrüßte Clarissa sie. »Das ist Dolly, und ich bin Clarissa. Wir sind gekommen, um dir zu helfen! Wir haben Schmerzpulver dabei, das löst Dolly in einem Glas Wasser auf, und sobald du es getrunken hast, geht es dir gleich wieder besser! Du wirst staunen, der Zaubertrank wirkt wahre Wunder!«
    Die Frau des Häuptlings, eine stämmige Frau mit faltigem Gesicht, schickte eine der jungen Frauen los, die wenig später mit einem Becher Wasser erschien. Clarissa bedankte sich und schüttete etwas von dem Pulver hinein. Sie wusste selbst, dass die Medizin nur einen Teil der Schmerzen lindern würde, und Caroline vielleicht erst in ein paar Jahren darüber hinwegkommen würde, was er ihr sonst noch angetan hatte. Sie flößte ihr die Medizin ein und nickte erleichtert, als sie den Becher in einem Zug leerte. »So ist es gut, Caroline! Es dauert noch ein bisschen, bevor der Zaubertrank wirkt, aber dann geht es dir besser. Versuch ein wenig zu schlafen, und denk vor dem Einschlafen an etwas Schönes, die Sonne, wie sie über dem Yukon aufgeht, die bunten Blumen, die im Frühjahr am Ufer wachsen, an deine Eltern und deinen Bruder!«
    Sie richtete sich auf und überließ es Dolly, das Mädchen weiter zu beruhigen. »Weißt du, wo ich herkomme, Caroline?«, hörte sie die Freundin sagen. »Aus dem fernen Europa, das liegt jenseits des großen Meeres im Osten, aus einem Land, das sie England nennen. Wir haben wunderschöne Lieder dort. Was meinst du, soll ich dir mal eins vorsingen?« Caroline reagierte nicht, aber Dolly sang trotzdem, keines der Sauflieder, die am Lagerfeuer bei ihrer Hütte erklungen waren, sondern eine alte Volksweise: »Greensleeves was all my joy, Greensleeves was my delight, Greensleeves was my heart of gold, and who but Lady Greensleeves …« Ihre Stimme hallte durch den stickigen Raum.
    »Wie lange geht das schon so?«, fragte Clarissa die Eltern, einen stämmigen Mann mit einer Wollmütze, wie sie manche Fischer tragen, über den kurzen Haaren, und einer runden Frau mit rotem Gesicht und verweinten Augen.
    »Vier Tage«, antwortete die Frau.
    »Und er hat sie …«
    Die Mutter nickte nur.
    »Ich kenne den Mann«, erwiderte Clarissa und hoffte, dass ihre Worte etwas Trost für die Eltern bedeuteten. »Vor einigen Jahren hat Frank Whittler versucht, auch mir Gewalt anzutun. Ich habe mich gewehrt und konnte fliehen. Seitdem hasst er mich. Aber der Marshal ist bereits auf seiner Spur. Er wird ihn verhaften, und er wird für mindestens drei Morde hängen. Ich werde dem Marshal sagen, was er eurer Tochter angetan hat. Frank Whittler soll wissen, warum er stirbt. Ich glaube nicht, dass ihr vor Gericht gegen ihn aussagen könnt, aber ich werde es tun, und er wird hängen, das verspreche ich.«
    »Und wann wird Caroline wieder lachen?«, fragte die Mutter.
    »Ich weiß es nicht. Aber es werden bessere Zeiten kommen, und ich hoffe sehr, dass sie ihr Lächeln wiederfindet.« Sie reichte der Mutter die Flasche mit dem restlichen Schmerzpulver. »Gib ihr jeden Tag etwas davon … nicht viel. Auch wenn es ihr Lächeln nicht zurückbringt, hilft es ihr vielleicht etwas. Ich sage der Krankenschwester in Nome, dass sie euch besuchen soll.«
    »Die war schon lange nicht mehr hier.«
    »Sie wird kommen … Auch das verspreche ich.«
    Nachdem Caroline eingeschlafen war, zog die Frau des Häuptlings den Vorhang zum Schlafbereich zu, und nur die Eltern des Mädchens blieben bei ihr. Das

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