Die Nacht der Wölfe
konnte. Auch einen Wolf, der tausend Meilen lief, um in ihrer Nähe zu bleiben, und sich in der Fremde ein Rudel suchte.
Sobald die gelben Augen erloschen waren, wollte Clarissa schon weiterfahren, als das Scharren von Schlittenkufen durch die Dunkelheit hallte, zuerst leiser, dann immer lauter. Ein Musher, der rasch näherkam.
»Easy, Emmett, ganz ruhig!«, warnte Clarissa ihre Huskys flüsternd. Sie steckte ihre rechte Hand in die Anoraktasche mit dem Revolver und umklammerte den Griff, finster entschlossen, sich zu verteidigen, falls Frank Whittler auf die Idee gekommen war, in eines der Indianerdörfer zurückzukehren. Dolly hatte sich von ihren Decken befreit und ihre Hand ebenfalls an ihrem Revolver. Sie war in Dawson City mehrfach gezwungen gewesen, einem betrunkenen oder aufdringlichen Goldsucher den Revolver unter die Nase zu halten, und kannte keine Hemmungen. Sie hatte sich längst an die rauen Sitten im Hohen Norden gewöhnt.
Doch ihre Sorge war unbegründet. Auf dem Trittbrett des Schlittens, der um die Biegung kam, stand ein junger Indianer. Er hielt seinen Schlitten an und blickte verwundert auf die beiden Frauen, die erleichtert ihre Hände aus den Taschen nahmen, als sie erkannten, wen sie vor sich hatten. Entgegen der Sitte, erst einmal über belanglose Themen zu plaudern, kam er gleich zur Sache: »Ich bin George«, begrüßte er sie. Wenn er einen Nachnamen hatte, verriet er ihn nicht. »Seid ihr Krankenschwestern? Habt ihr Schmerzpulver dabei?«
Clarissa und Dolly wechselten einen erstaunten Blick. »Wir sind keine Krankenschwestern, aber ich habe eine kleine Flasche mit Pulver dabei.« Sie blickte Dolly an und bekam ein Nicken zur Antwort. »Sie auch.« Sie deutete auf ihre Freundin. »Das ist Dolly Kinkaid, und ich bin Clarissa Carmack.«
»Wir haben keine Medizin mehr im Dorf«, sagte George. »Die Krankenschwester, die uns besucht, war schon seit einem Vierteljahr nicht mehr bei uns. Die Weißen sind gut darin, ihre Versprechen zu brechen.« Er kramte in seinem Vorratssack. »Würdet ihr mir eine Flasche verkaufen? Ich habe etwas Gold dabei, damit kann ich bezahlen. Wir brauchen die Medizin dringend.«
»Etwas Ernstes?«, fragte Clarissa besorgt.
»Warum kommt ihr nicht mit mir, dann werdet ihr es sehen. Vielleicht könnt ihr meiner Schwester helfen. Sie hat große Schmerzen, seitdem der weiße Mann bei uns war und …« Er war nicht in der Lage weiterzusprechen.
Ein schrecklicher Verdacht stieg in Clarissa hoch. »Ein großer Mann mit kalten Augen und schmalem Mund? Als er mir zum letzten Mal gegenüberstand, trug er eine teure Pelzjacke. Ein Angeber, der sich für etwas Besseres hält. Frank Whittler … Aber er hat sicher nicht seinen Namen genannt …«
»Du kennst den Mann?«
»Ein gemeiner Verbrecher, der eine Bank in Anchorage überfallen und einen Kassierer erschossen hat … und seine beiden Komplizen.« Sie erwähnte nicht, dass Whittler auch hinter ihr her war, der junge Indianer schien schon genug Sorgen zu haben. »Natürlich kannst du eine Flasche haben. Du brauchst nicht dafür zu bezahlen. Ja, vielleicht sollten wir wirklich erst mal mitkommen? Vielleicht können wir deiner Schwester helfen. Wie heißt sie denn?«
»Caroline … Ihr seid sehr freundlich. Zu unserem Dorf ist es nicht weit.«
Sie folgten dem Indianer nach Westen und verließen den Fluss an einer weiteren Biegung, die so ungeschützt lag, dass ihnen der Wind voll ins Gesicht blies. George zeigte sich unbeeindruckt, im Gegenteil, er trieb seine Hunde zu einer noch schnelleren Gangart an, um möglichst schnell sein Dorf zu erreichen. Clarissa hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Über einen schmalen Jagdpfad fuhren sie durch einen lichten Laubwald, in dem sich die wenigen Fichten wie dunkle Flecken gegen die kahlen Laubbäume abhoben.
Das Dorf lag in einer geschützten Senke und bestand aus einigen wenigen Blockhäusern und Baracken, die mit Moos und Fichtenzweigen gegen die Kälte abgedichtet waren. Die Huskys begrüßten sie mit einem lauten Jaulkonzert, das wohl auch den Häuptling alarmierte, der bereits leicht bekleidet vor der Tür seines Hauses stand, als sie eintrafen. Die Kälte schien ihm nichts auszumachen. George erklärte ihm in wenigen Sätzen, wie er die beiden Frauen getroffen und warum er sie mitgebracht hatte. Clarissa kramte das Schmerzpulver aus ihrem Vorratssack und folgte ihm in sein Haus, gefolgt von Dolly, die einen Beutel mit Tabak dabeihatte und ihn dem Häuptling zum
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