Die Nacht der Wölfe
Angebot des Häuptlings, neben dem warmen Ofen zu schlafen, nahmen Clarissa und Dolly gerne an. Sie rauchten mit ihm, wie es Brauch in den Indianerdörfern war, und freuten sich über den Eintopf, den seine Frau auftischte. »Wir sind es nicht gewöhnt, von Weißen gut behandelt zu werden«, sagte der Häuptling nach dem ersten Zug. »Wir sind euch sehr dankbar.«
»Auch mir haben schon Indianer geholfen, als ich in Not war«, erwiderte Clarissa. Auf der Flucht vor Frank Whittler hatte sie sich vor drei Jahren schwer verletzt und war von Indianern gesundgepflegt worden. »Zwischen unseren Völkern herrscht schon lange Frieden. Warum sollten wir euch nicht gut behandeln?«
»Wenn nur alle so denken würden«, sagte der Häuptling.
Sie saßen eine Weile schweigend beisammen. Der Häuptling schlug seine Pfeife über einem Teller aus und warf frische Holzscheite in den Ofen, schenkte ungefragt Kräutertee ein und stellte die Becher vor Clarissa und Dolly auf den Tisch. Er selbst trank Wasser.
Im Schein der flackernden Petroleumlampe, die rußend auf dem Tisch stand, wirkte sein Gesicht faltiger und älter, als er es wirklich war. Seine Frau stand vor der Schüssel neben dem baufälligen Küchenschrank und wusch das schmutzige Geschirr. George saß auf einer Decke unter dem Fenster und starrte ins Leere, auch ihn hatte das Schicksal seiner Schwester schwer gezeichnet. Er weinte leise vor sich hin.
»Du hast Kummer«, sagte der Häuptling nach einer längeren Pause. Er blickte Clarissa aus seinen dunklen Augen an, als könnte er tief in ihre Seele blicken. »Ich lese es in deinen Augen. Was bedrückt dich, weiße Schwester?«
Clarissa registrierte sehr wohl, dass der Häuptling eine besonders respektvolle Anrede wählte. Sie nickte schwach. »Ich habe meinen Mann verloren. Alex Carmack. Alle sagen, dass ihn der Mann, der Caroline … dass ihn Frank Whittler angeschossen hat und er in eine Felsspalte fiel, und ein Arzt behauptet, er hätte eine unheilbare Krankheit, aber ich glaube immer noch an ein Wunder und hoffe, dass er nach Nome gegangen ist. Selbst wenn es nicht so ist, will ich mich selbst davon überzeugen. Habt ihr meinen Mann gesehen?«
Der Häuptling schüttelte bedauernd den Kopf. »Hier war kein weißer Mann außer dem Verbrecher, den du genannt hast. Aber ich hoffe, er ist noch am Leben und du wirst ihn finden. Du bist eine gute Frau, weiße Schwester.«
»Ich danke dir, Großvater.« Die respektvollste Anrede unter Indianern.
29
Sie brachen am frühen Morgen auf. Die Frau des Häuptlings hatte ihre Feldflaschen mit heißem Kräutertee gefüllt und stand neben ihrem Mann, als die beiden Frauen auf den Schlitten stiegen und aus dem Dorf fuhren. Das vielstimmige Jaulkonzert der Hunde, die im Dorf zurückbleiben mussten, begleitete sie auf den Trail.
Der Himmel war immer noch bedeckt, aber der Wind, der während der Nacht böiger geworden war, hatte nachgelassen, und der Schnee auf dem Trail war fest und griffig. Clarissa hatte ihren Hunden frisches »Schuhwerk« aus Kaninchenfell verpasst, eine Vorsichtsmaßnahme für die letzten Meilen auf dem Yukon River, dessen Eis an manchen Stellen uneben und rau war.
»Heya!«, rief Clarissa laut, als sie die Hunde auf den Yukon trieb. »Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob ihr noch laufen könnt oder ob euch George so viel Futter gegeben hat, dass ihr euch erst mal ausruhen müsst. Vorwärts!«
George hatte den Huskys tatsächlich erstklassiges Futter gegeben, aber ausgeruht hatten sie sich in dieser Nacht genug, und sie lechzten förmlich danach, sich die angefressenen Pfunde von den Rippen zu laufen. In dem flotten Trab, den sie sich für die langen Strecken antrainiert hatten, liefen sie über das Flusseis, das an diesem Morgen von aufsteigendem Nebel bedeckt war.
Auf der Fahrt nach Fort St. Michael, einem Fort der US Armee, das ausgerechnet nach einem Erzengel benannt war, begegneten sie keinem Menschen, und auch Tiere ließen sich nicht blicken. Sie waren allein auf dem Fluss, wechselten ein paar mitfühlende Worte über die vergewaltigte Caroline und verwünschten Frank Whittler mit so ziemlich allen Schimpfwörtern, die ihnen einfielen. Besonders Dolly nahm kein Blatt vor den Mund und zauberte einige Ausdrücke aus ihrer englischen Vergangenheit hervor, die Clarissa erblassen ließen. Aber ihre Freundin hatte recht. Aus dem arroganten Weiberheld, der Frank Whittler einmal gewesen war, dem reichen Millionärssohn, der jede ihm unterstellte Frau als
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