Die Nacht der Wölfe
nie zuvor war Clarissa in einer solchen Zwangslage gewesen. Selbst der stürmischste Blizzard war nichts gegen diesen eisigen Nebel und den gefährlichen Overflow, der sich plötzlich unter den Kufen des Schlittens bildete. Irgendwo drang Meerwasser durch das Eis und bildete eine gefährliche neue Eisschicht, eine schmierige Eissuppe, den so genannten Overflow, der von allen Mushern und vor allem den Huskys am meisten gefürchtet wurde. Schon so mancher Schlittenhund hatte im eisigen Overflow seine Pfoten verloren.
Scheinbar führungslos schlingerte der Schlitten durch das weiche Eis, umgeben von dichtem Nebel und dem stürmischen Wind, der ihn durch die Eisdecke in die Tiefe des Meeres zu drücken versuchte. Überall konnten jetzt undichte Stellen sein oder das Eis so dünn, dass es bei der leisesten Berührung brechen konnte. »Overflow! Overflow! Bring uns hier raus, Emmett!«
Ein heiserer Schrei zeigte Clarissa an, dass etwas passiert sein musste. Sie fuhr zusammen, drehte sich um und sah Dolly auf dem Eis liegen. Sie war mitsamt ihren Decken vom Schlitten gestürzt und verschwand im Nebel, während der Schlitten vorbeiraste, beide Hände mit den Handschuhen in den knöcheltiefen Overflow gestützt.
»Whoaa! Whoaa!«, schrie Clarissa so laut sie konnte.
Die Hunde waren es gewohnt, über gefährliches Eis so schnell wie möglich zu laufen, um nicht einzubrechen oder mit den Pfoten zu lange in dem eisigen Overflow zu stehen, und hielten nur widerwillig. »Whoaa!«, rief Clarissa noch einmal. »Wir haben Dolly verloren! Warte hier auf uns, Emmett!«
Auf die Gefahr hin, den Schlitten aus den Augen zu verlieren, lief sie zurück. Schon nach wenigen Schritten sah sie Dolly über das Eis taumeln. In dem geheimnisvollen Licht, das die vereiste Bucht zurückwarf, sah sie wie eine Geisterfrau aus, eine unheimliche Gestalt aus einem Indianermärchen. »Hierher, Dolly! Hierher!« Sie rannte der Freundin entgegen und schloss sie rasch in die Arme. »Die Handschuhe aus! Zieh sie aus und schieb deine Hände unter den Anorak! Beeil dich, sonst erfrieren deine Hände! Schnell!«
Dolly gehorchte wortlos und ließ die Handschuhe an dem Lederriemen baumeln. Sie waren innerhalb kürzester Zeit hart gefroren, ebenso ein Teil der Decken, in die sie sich gewickelt hatte. Sie zitterte vor Angst und vor Kälte. »Ich … ich kann nichts dafür«, stammelte sie, »plötzlich wa-war ich unten!«
»Kannst du laufen, Dolly? Du bist doch okay?«
»Es geht scho-schon, aber es ist ver-verdammt kalt!«
»Zum Schlitten! Komm schon, Dolly! Wir dürfen keine Zeit verlieren! Wir müssen dich so schnell wie möglich in eine warme Hütte schaffen! Komm!«
Sie zerrte Dolly über das schlüpfrige Eis, fand nach einigem Suchen den Schlitten und half ihr auf die Ladefläche. Mit den Decken, die sie zurückgelassen hatte, wickelte sie die Freundin fest ein. Sie zitterte immer noch stark. Wenn die Feuchtigkeit bis auf ihre Haut durchgedrungen war, gefror sie bei diesen niedrigen Temperaturen in Sekundenschnelle. Hier draußen waren es bestimmt dreißig Grad unter null, und der böige Wind tat ein Übriges, die Kältegrade noch weiter nach unten zu treiben. »Halt dich gut fest, Dolly!«
Sie sprang aufs Trittbrett und feuerte das Gespann an. »Giddy-up, vorwärts, jetzt zeigt mal, was ihr könnt!« Die Hunde rannten los, waren froh, endlich wieder nach festem Eis suchen zu dürfen, und rannten mit heftigen Sprüngen durch den wabernden Nebel. »Emmett!«, rief sie so laut, dass ihr Leithund sie hören konnte. »Du musst den Trail für uns finden! Bring uns aus diesem verdammten Overflow weg! Dolly ist die Eisbrühe gefallen und braucht einen warmen Platz! Zeig uns, was für eine Spürnase du hast!«
Jetzt lag es tatsächlich an Emmett, sie auf den Trail zurückzuführen. Clarissa hatte in den wogenden Nebelschwaden und dem wenigen Licht, das nachts über der vereisten Bucht lag, die Orientierung verloren, und der schwammige Overflow stimmte sie nicht gerade ruhiger. Der eisige Boden schien sich unter ihr zu bewegen und jeden Augenblick wegzubrechen, wie scharfe Messer glitten die Kufen darüber hinweg und rissen neue Wunden in das Eis, durch die Meerwasser an die Oberfläche drang. Unter den Pfoten der Huskys spritzte das Wasser, bei jeder schlingernden Bewegung schleuderten die Kufen schmutzigen Schneeschlamm nach beiden Seiten. Wie der drohende Atem eines indianischen Winterriesen wogte der eisige Nebel heran.
Wie Emmett den Trail wiederfand
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