Die Nacht der Wölfe
sie eifersüchtig, und Clarissa wurde plötzlich von allen Seiten bedrängt. Anscheinend waren auch die Yupik verwundert, zwei weiße Frauen in der Tundra zu sehen. Sie zupften an ihren Haaren und ihrer Kleidung und deuteten auf den Vorratssack am Schlitten, hofften wohl auf Geschenke. Clarissa kramte darin herum, opferte einige Vorräte und den Rest der Schweizer Schokolade und fand bei Dolly eine weitere Packung Tabak. Die Vorräte und die Schokolade verteilte sie an die Frauen, den Tabak reichte sie dem Häuptling, einem alten Mann, dem ebenfalls einige Zähne fehlten. Er griff danach und gab ihn kichernd an die Alte weiter. Die verschwand lachend damit in ihrer Hütte und kehrte später mit einer qualmenden Pfeife zurück.
»Seid willkommen!«, begrüßte sie der Häuptling und führte sie in das Versammlungshaus, das wie alle anderen Hütten aus Treibholz erbaut war. Aus dem Buch, das sie gelesen hatte, wusste sie, dass die Yupik dort ihre Tänze und Zeremonien abhielten. Anders als die meisten Indianer hielten sie große Stücke auf ihre Tradition. Selbst der Goldrausch, der schon seit ein paar Monaten tobte, hatte ihr Volk noch nicht in die Gegenwart geholt. Sie kleideten sich traditionell, trugen Hosen und Anoraks aus Rentierfell und mukluks, wasserfeste Stiefel aus Robbenhaut. Wenn sie krank waren, vertrauten sie dem Medizinmann eher als einem Doktor. Gleich neben dem Eingang lag eine ausgenommene Robbe, kein schöner Anblick, aber für die Yupik lebensnotwendig. Die Robbe und der Wal gaben ihnen alles, was sie zum Leben brauchten: Nahrung, Kleidung, Werkzeuge, Waffen, sogar Öl für ihre Lampen.
Das Versammlungshaus war groß genug für alle Dorfbewohner und so stabil gebaut, dass kaum Wind und Schnee durchkamen. Der bullige Kanonenofen in der Mitte war ein Geschenk der Zivilisation, das die Yupik gern übernommen hatten, auch wenn es in ihren Breiten kaum Brennholz gab. Im Hintergrund des Hauses lag das im Sommer gesammelte Treibholz bis zur Decke gestapelt, genug für ein oder zwei Monate, aber es reichte nicht den ganzen Winter. Wenn das Holz aufgebraucht war, mussten ihre Öllampen herhalten. Dolly konnte von Glück sagen, dass der Winter gerade erst begonnen hatte.
Clarissa setzte sich neben ihre Freundin, die dicht neben dem Ofen kauerte und langsam wieder auftaute. Über einer Leine neben dem Ofen hingen ihre Kleider. Zwei Frauen hatten sie ausgezogen und ihr ein dickes Eisbärenfell gebracht, unter dem sie sich wärmen konnte. Sie lächelte schon wieder, auch wenn in ihren Augen noch die Erinnerung an die eisige Kälte zu sehen war.
Nachdem die zahnlose Alte, die anscheinend mit dem Häuptling verheiratet war, zwei Becher mit heißem Kräutertee gebracht hatte, prostete Clarissa dem Häuptling zu. »Wir sind euch sehr dankbar, Häuptling. Ohne euch hätte meine Freundin vielleicht ihre Hände verloren. Wir trinken auf euer Wohl.«
Der Häuptling nickte und griff nach der Pfeife, die seine Frau ihm reichte. Nachdem er einige Züge genommen hatte, reichte er sie an die Alte zurück. »Ihr seid anders als die Goldgräber, die hier vorbeikommen und über uns lachen oder uns beschimpfen. Und ihr seid nicht wegen des Goldes hier.«
»Das stimmt«, erwiderte Clarissa. »Ich habe mir noch nie etwas aus Gold gemacht. Es bringt viel Unglück über die Menschen, und reich werden nur wenige. Mir reicht, was ich brauche, um in meiner Hütte leben zu können, alles andere gibt mir die Natur.« Sie trank einen Schluck von dem Kräutertee, der sie angenehm wärmte und belebte. »Ich suche meinen Mann. Die Leute sagen, dass ihn der Verbrecher, vor dem wir über das Eis geflohen sind, angeschossen und in eine Felsspalte gestoßen hat, aber ich hoffe immer noch auf ein Wunder, und meine Freundin …« Sie lächelte schwach, »… sie will mir die Hoffnung nicht nehmen, sonst wäre sie wohl längst umgekehrt. Wahrscheinlich hat sie recht. Wir wären wohl besser zu Hause geblieben. Wir bauen ein Rasthaus in der Nähe von Fairbanks und werden dort dringend gebraucht.«
Der Häuptling hatte bei ihren letzten Worten gar nicht mehr zugehört. »Dein Mann … ist er groß und breitschultrig, und hat er braune Augen, fast wie ein Indianer? Gehört er zu den besten Mushern und Jägern im Norden?«
Clarissa sprang so heftig auf, dass sie einen Teil ihres Tees verschüttete. Die Männer und Frauen, die mit ihnen im Versammlungshaus waren, blickten sie verwundert an. »Du hast Alex gesehen? Du hast meinen Mann
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