Die Nacht der Wölfe
gesehen?«
»Nein«, erwiderte er ruhig, »ich habe ihn nicht getroffen, zumindest nicht in dieser Welt. Ich habe ihn in meinen Träumen gesehen, einen einsamen Mann, wie ich ihn beschrieben habe, der mit einem Hundeschlitten der Indianer nach Norden fährt und seine Vergangenheit hinter sich lässt. Ein starker, aber auch ein sehr einsamer Mann, so einsam und allein, wie ich noch keinen anderen Mann gesehen habe. Als er sich nach mir umdrehte, waren Tränen in seinen Augen. Es muss einen besonderen Grund für seine Flucht geben, aber seine Stimme war zu schwach, um mich zu erreichen. Ich weiß nicht, was ihn trieb. Als er wieder nach vorn blickte, hüllte ihn der frostige Eisnebel ein.«
»Das war Alex, das muss er gewesen sein!«, rief Clarissa aufgeregt. »Wo kann ich ihn finden, Häuptling? Wenn du von ihm träumst, muss er ganz in der Nähe sein!« Sie drehte sich nach Dolly um. »Hast du das gehört, Dolly? Alex lebt! Es ist wie in dem Traum des Medizinmannes … Er lebt tatsächlich!«
»Es war nur ein Traum«, beschwichtigte sie der Häuptling, »und niemand kann sagen, ob dein Mann auch im wirklichen Leben noch bei uns ist. Vielleicht ist er tatsächlich nach Norden gezogen, aber nur die Geister wissen, ob er in ihrer oder noch in unserer Welt zu Hause ist. Ich will dir deine Hoffnung nicht nehmen, weiße Frau, und ich wünsche dir, dass er noch am Leben ist …«
»Das ist er, Häuptling! Das ist er bestimmt!« Clarissa war immer noch zu aufgeregt, um sich zu setzen. »Sagt ihr nicht, dass auch Träume wahr sind?«
Der Häuptling nickte anerkennend, er traf wohl selten einen Weißen, der so viel über die Yupik wusste wie Clarissa. »Das ist wahr, weiße Frau, aber keiner unserer Träume verrät uns, in welcher Welt wir die Bilder sehen.« Er bedeutete einem Jungen, etwas Treibholz in den Ofen zu werfen, und wandte sich erneut an Clarissa. »Warum verbringt ihr die Nacht nicht bei uns? Unsere Leute werden sich um eure Hunde kümmern, und ihr könnt euch wärmen und an unserem Rentiereintopf stärken, bevor ihr weiterzieht. Was haltet ihr davon?«
Clarissa wechselte einen raschen Blick mit Dolly und verneigte sich dankbar. »Ihr seid sehr großzügig, Häuptling. Wir bleiben heute Nacht gern bei euch.« Doch während sie es sagte, dachte sie bereits daran, wie sehr ihre Chancen, Alex wiederzusehen, gestiegen waren, denn wenn ein Indianer und ein Inuit den gleichen Traum gehabt hatten, musste doch etwas dran sein. »Hast du das gehört, Dolly?«, flüsterte sie noch einmal, bevor sie neben dem Ofen einschliefen. »Jetzt weiß ich ganz sicher, dass Alex noch am Leben ist.«
Dolly sagte gar nichts, aber in ihrem Blick war mehr Skepsis, als Clarissa sicher lieb war. Wie gut, dass sie ihre Augen in der Dunkelheit nicht sah.
31
Sie verließen das Yupik-Dorf am frühen Morgen. Die Wolken hatten sich verzogen, und auch der Wind hatte wieder Erbarmen mit ihnen, als wollte er sie für die Anstrengung des letzten Tages belohnen.
Nur leichte Böen fegten über die verschneite Tundra und trieben kleine Schneewolken vor sich her. Über ihnen leuchtete der Nordstern am dunklen Himmel und wies ihnen den Weg. Sein Licht spiegelte sich auf dem gefrorenen Schnee.
Der Trail führte in zahlreichen Windungen an der Küste entlang und gab den Blick frei über die scheinbar endlose Tundra und den Norton Sound, der sich rechts von ihnen erstreckte und am Horizont in das gefrorene Eismeer überging. Selbst für Clarissa, die viele Male mit ihrem Vater auf den Pazifik gefahren war und dort nur Wasser um sich gehabt hatte, bot die grenzenlose Eisfläche ein unheimliches Bild. Das Licht der unzähligen Sterne, das wie ein Schimmer über dem Eis lag, ließ es wie ein Meer aus einer anderen Welt erscheinen, einer unnahbaren und feindseligen Welt, die sich hinter den düsteren Nebelschwaden am Horizont verbarg. Nur die unerschrockenen Jäger der Inuit und einige Fallensteller wagten sich in dieses fremde Reich.
Clarissa schwankte zwischen der neuen Hoffnung, an dem Traum des alten Häuptlings könnte etwas Wahres dran sein, und der Angst, Frank Whittler könnte wieder hinter ihnen auftauchen. Eine große Stadt wie Nome bot ein ideales Versteck für den Verbrecher, dort würde er weniger auffallen als in einem Indianerdorf, und er war bestimmt nur unterwegs, um seine Hunde zu bewegen oder einen Handelsposten aufzusuchen.
Auch Dolly, die wieder auf dem Schlitten saß, war in Gedanken bei dem Verbrecher. »Dieser Whittler ist ein
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