Die Nacht der Wölfe
du denn plötzlich? Warum fährst du nicht weiter?«, rief Dolly verwundert. Anscheinend sah sie die Augenpaare nicht. »Ist was mit den Hunden? Sie benehmen sich so komisch … Als wären wilde Tiere in der Nähe.«
Clarissa antwortete nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt Bones, der sich vom Rudel gelöst hatte und ihr bis auf ungefähr fünfzig Schritte entgegenkam. Wie bei der letzten Begegnung war seine Botschaft eindeutig: Fahr auf keinen Fall weiter! Hinter mir lauert Gefahr!
»Clarissa! Was ist denn? Sag doch was! Du bist ja ganz blass!«
Clarissa schwieg weiter, sie war noch immer schockiert und starrte unverwandt auf den knochigen Wolf, der breitbeinig stehen geblieben war und sie warnend anblickte. Er heulte verhalten, verschwand dann so plötzlich, wie er gekommen war, und wenig später erloschen auch die gelben Augenpaare.
»Hörst du die Stimme?«, fand Clarissa ihre Sprache wieder.
»Was für eine Stimme?«
Tatsächlich trug der Wind eine Männerstimme zu ihr herab, eine dunkle Stimme, die ein Hundegespann anfeuerte und ihr irgendwie bekannt vorkam. Sie brauchte nicht lange nachzudenken. »Frank Whittler! Das ist Whittler!«
Jetzt hörte auch Dolly die Stimme. »Frank Whittler? Woher willst du das wissen? Das klingt wie eine beliebige Männerstimme. Wahrscheinlich einer der Goldgräber, der seine Braut in einem Inuit-Dorf besucht. Oder einer der Soldaten auf einem Routinetrip. Die Stimme kannst du unmöglich erkennen!«
Vielleicht war es nur eine Ahnung, oder Bones hatte ihr den Namen zugeflüstert, aber sie war beinahe sicher, die Stimme ihres Peinigers zu erkennen. Er konnte höchstens noch eine Viertelmeile von ihr entfernt sein, vielleicht nur ein paar hundert Schritte. Jeden Augenblick konnte er über den Hügel kommen. »Es ist Whittler, Dolly! Ganz sicher. Die Stimme kenne ich genau!«
Clarissa kämpfte gegen die aufsteigende Panik an und versuchte ruhig zu bleiben. Hastig sah sie sich nach einem Versteck oder einem Ausweg um. Es gab keine Bäume oder Büsche mehr, hinter denen sie sich verbergen konnte, und das nächste Inuit-Dorf war sicher noch ein paar Meilen entfernt. Der einzige Fluchtweg führte über die steile Böschung auf den Norton Sound, weg vom sicheren Trail und auf das tückische Eis der gefürchteten Meeresbucht.
»Halt dich gut fest!«, rief Clarissa und schob den Schlitten an. »Haw, Emmett! Nach links! Auf die Bucht! Giddy-up! Go!« Ihr Leithund verstand, wie dringend das Kommando war, und stemmte sich ins Geschirr, riss die anderen Hunde mit und zog den Schlitten über die Böschung. Clarissa sprang aufs Trittbrett und beugte sich weit nach rechts, damit der Schlitten nicht umkippte, duckte sich auf dem vereisten Hang, bis die Kufen auf dem Eis der Bucht aufschlugen und sie im Schatten der steilen Böschung davonfahren konnte.
Gerade noch rechtzeitig, wie sie erkannte, denn kaum waren sie auf der Bucht, hörten sie die lauten Anfeuerungsrufe von Frank Whittler über sich.
30
Sie waren mitten auf der Bucht, als sie das Unwetter einholte. Der Wind, der bisher in ihrem Rücken gewesen war, drehte unvermittelt und kam plötzlich von der Seite, drückte sie wie mit einer unsichtbaren riesigen Faust vom Trail und trieb sie in eisigen Nebel hinein.
Als wollten sie ihr die Luft abdrücken, zogen sich die grauen Schwaden immer enger um sie zusammen und machten es ihr unmöglich, die Richtung zu bestimmen. Weder ihren Leithund noch Dolly konnte sie in der zähen Masse erkennen, alles war grau um sie herum.
Das Heulen des Windes wurde immer lauter, längst hatte er sich zu einem ausgewachsenen Sturm entwickelt, der eisige Kristalle durch die Luft peitschte und auf ihrem Gesicht und in ihren Augen brannte. Sie hatte ihren Schal über die Nase geschoben, doch selbst durch die dicke Wolle schienen der Wind und die Eiskristalle einen Weg zu finden. Ihr Anorak flog hin und her und drohte ihr vom Körper gerissen zu werden, unter ihrer Pelzmütze flatterten ihre Haare.
Mit gebeugtem Kopf und beiden Händen an der Haltestange blieb Clarissa nichts anderes übrig, als sich auf ihre Hunde zu verlassen. Allein Emmett konnte es schaffen, den Trail zu finden und zum anderen Ufer durchzukommen. Sie glaubte seine Entschlossheit zu spüren, seinen unbedingten Willen, nicht gegen die Natur zu verlieren, und feuerte ihn unablässig an, obwohl er sie in dem Heulen und Rauschen nicht hören kann. »Weiter, Emmett! Weiter! Bring uns hier raus! Irgendwo muss der verdammte Trail doch sein!«
Noch
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