Die Nacht der Wölfe
Aber sie schnallte den Vorratssack dennoch ab, und Dolly nahm die Decken und die Schlafsäcke mit. Miss Emmy, wie sie genannt werden wollte, wartete bereits in der offenen Tür. »Treten Sie ein, das Essen steht schon auf dem Herd.«
Sie trugen sich unter falschen Namen ein, Dolly als Doreen und Clarissa als Clara, zahlten für eine Nacht im Voraus und trugen ihre Sachen ins Zimmer. Das Fenster ging zur Straße raus, und der Lärm war beinahe unerträglich, aber das wäre nach hinten raus und überall sonst in der Stadt genauso. »Wenn Sie Ruhe wollen, müssen Sie auf die Tundra rausfahren, da sind Sie allein«, sagte Miss Emmy, als sie sich gewaschen und einigermaßen landfein gemacht hatten. Aus der Küche zog der verlockende Duft von Rentiereintopf herein.
»Eigentlich hab ich den Eintopf für heute Abend auf dem Feuer stehen«, erklärte Miss Emmy, »ein guter Eintopf muss lange ziehen, aber Sie haben sicher Hunger.« Sie öffnete die Tür zum Esszimmer, einen schlicht möblierten Raum mit einem einfachen Holztisch und sechs Stühlen. Aus der obersten Schublade einer Kommode holte sie eine karierte Decke und breitete sie über dem Tisch aus. »Ein kräftiges Gespann haben Sie, Ma’am. Ich bin früher auch mal Hundeschlitten gefahren. Keine weite Strecken, aber immerhin. Wir kommen aus Michigan, mein Mann und ich … Leider ist er letztes Jahr verstorben.« Sie bekreuzigte sich. »Darf ich fragen, woher Sie stammen? So erschöpft, wie Sie aussehen, müssen Sie von weither kommen.«
»Fairbanks«, antwortete Clarissa wahrheitsgemäß. »Sagen Sie, haben Sie während der letzten Wochen einen Mann nach Nome kommen sehen?« Sie beschrieb Alex, so gut sie konnte. »Einen Fallensteller? Er muss starke Kopfschmerzen gehabt haben, so stark, dass er sich setzen oder hinlegen musste.«
Miss Emmy überlegte einige Zeit und schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste, Ma’am, aber hier kommen so viele Männer durch, und die meisten haben Kopfschmerzen, weil sie vollkommen abgebrannt sind und nicht mehr wissen, wie sie nach Hause kommen sollen. Nein, tut mir leid, Ma’am.« Ihre nachdenkliche Miene wich einem fröhlichen Lachen. »Aber jetzt setzen Sie sich erst mal. Sie haben sich ein leckeres Mittagessen verdient. Am ersten Tag berechne ich Ihnen auch nichts dafür. Ich bin berühmt für meinen Rentiereintopf, müssen Sie wissen, und ich habe sogar einen Gast, der nur deswegen kommt. Drei Mal in der Woche koche ich Rentiereintopf, und drei Mal in der Woche beehrt er mich mit seinem Besuch. Er wird Ihnen gefallen, meine Damen, ein Gentleman, so was gibt es in Nome selten. Er muss übrigens jede Minute auftauchen. Ich beeile mich besser.« Sie huschte aus dem Esszimmer, und Clarissa und Dolly hörten sie in der Küche mit einem Topf hantieren.
Wenige Minuten später klopfte es, und der geheimnisvolle Gentleman betrat den Flur. Durch die angelehnte Tür hörten sie seine Stimme. »Meine Verehrung, Miss Emmy. Sie sehen großartig aus heute!« Kurze Pause, die wahrscheinlich mit einem Lächeln überbrückt wurde. »Mmh, das duftet ganz köstlich. Ich freue mich jedes Mal auf Ihren Rentiereintopf, Miss Emmy. Habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie die beste Köchin des Nordens sind?«
»Jedes Mal, wenn Sie zum Essen kommen, Sie Schmeichler! Kommen Sie! Oder wollen Sie mir noch weiter um den Bart gehen? Nicht, dass ich was dagegen hätte, aber wir haben zwei neue Gäste, und die haben eine lange Reise hinter sich und auch schon mächtig Hunger. Zwei hübsche Damen!«
Clarissa wusste, wer gleich zur Tür hereinkommen würde, und lächelte verhalten, als der Gentleman den Raum betrat. Sein hageres Gesicht verriet den Spieler, der viele Nächte in verrauchten Etablissements zubrachte, die scharfen Augen den geschulten Beobachter. Sein Haar war sorgfältig gescheitelt und roch nach einem Duftwasser. Er trug einen vornehmen Maßanzug, erstaunlich saubere Schuhe, und in seiner Krawatte steckte eine goldene Nadel.
»Sam Ralston!«, flüsterte Clarissa.
»Ma’am!«, rief der Spieler erstaunt.
»Sie kennen sich?«, fragte Miss Emmy neugierig. Auch Dolly ließ ihren Blick erstaunt zwischen Clarissa und dem Gentleman hin und her wandern.
Ralston fing sich sofort wieder. »Oh, das ist schon eine ganze Weile her«, berichtete er lächelnd. Und weil er nicht wusste, ob Clarissa sich unter ihrem richtigen Namen eingetragen hatte, sagte er: »Ich hatte das Vergnügen, die Dame und ihren Gatten mehrmals zu treffen.« Er verbeugte
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