Die Nacht der Wölfe
sich vor ihr und blickte Dolly an. »Und haben wir uns nicht in Skaguay gesehen, Ma’am?«
»Das ist gut möglich, Mister …«
»Ralston … Sam Ralston. Ich darf mich doch zu Ihnen setzen?«
»Natürlich … sehr gerne.«
Clarissa hatte gute Erinnerungen an Sam Ralston. Auch er war nicht besonders gut auf Frank Whittler zu sprechen, und ohne ihn wäre ihr die Flucht vor dem Millionärssohn niemals gelungen. Ein stets wie aus dem Ei gepellter Bursche, der mit den Pokerkarten umzugehen wusste und auch mal fünfe gerade sein ließ, wenn er sich dadurch einen Vorteil verschaffen konnte. Er war überall dort, wo sich gutes Geld verdienen ließ, vornehmlich in Goldgräberstädten wie Skaguay, Dawson City und jetzt auch Nome. Als Alex in China war und niemand mehr an seine Rückkehr glaubte, war Ralston drauf und dran gewesen, Clarissa einen Antrag zu machen, hatte sich dabei aber wie ein Gentleman verhalten und war ihr nie zu nahegetreten.
»Was tun Sie hier, Ma’am?«, sagte Ralston, nachdem Miss Emmy den Raum verlassen hatte. »Wissen Sie denn nicht, dass Frank Whittler in der Stadt ist? An Ihrer Stelle würde ich so schnell wie möglich verschwinden. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Whittler eine Bank in Anchorage überfallen und einen Kassierer erschossen hat. Er schreckt vor nichts mehr zurück.«
»Wir bleiben nicht lange«, erwiderte Clarissa mit gedämpfter Stimme. Sie wollte nicht, dass Miss Emmy mithörte. »Wir sind wegen Alex hier … Er ist spurlos verschwunden.« Sie berichtete in wenigen Sätzen, was geschehen war. »Ich hoffe immer noch, dass er am Leben ist. Haben Sie ihn gesehen?«
»Leider nein, Ma’am. Ich fürchte auch, Sie machen sich falsche Hoffnungen. Es spricht doch vieles dafür, dass Ihr Mann … dass er tot ist. Warum wollen Sie wegen einer vagen Hoffnung Ihr Leben riskieren? Wenn Whittler Sie findet … Sie wissen, was dann passiert. Er versteht keinen Spaß. Kehren Sie um, fahren Sie nach Hause! Bringen Sie Ihr Leben nicht unnötig in Gefahr. Wenn Ihr Mann wirklich in Nome sein sollte, finde ich ihn und schicke ihn hinterher.« Er blickte Dolly an. »Überreden Sie Ihre Freundin, Mrs …«
»Kinkaid«, erwiderte Dolly, »aber wir haben uns unter falschem Namen eingetragen. Falls Whittler nach uns sucht. Sie heißt Clara und ich Doreen.«
»Warten Sie nicht zu lange, Ma’am!«
Miss Emmy brachte den Rentiereintopf und füllte die Teller. »Und wehe, Sie lassen was übrig«, drohte sie spielerisch, »dann wird es hier noch kälter, und das will keiner in Nome. Die Biskuits bringe ich gleich … Ofenfrisch.«
Der Eintopf schmeckte tatsächlich so gut, wie Miss Emmy angekündigt hatte, und niemand ließ etwas übrig, im Gegenteil, alle wünschten einen Nachschlag. Dazu gab es heißen Tee mit Kandiszucker, eine Spezialität, die Miss Emmy von einem Händler hatte. Wie in Skaguay und Dawson gab es auch in Nome fast alles zu kaufen – zu einem hohen Preis.
»Ich hätte mir ja denken können, dass Sie hier sind«, ging Clarissa lächelnd zu einem unverfänglichen Thema über. »Ich nehme an, Sie sind wieder bei einem Saloon unter Vertrag und nehmen die armen Goldgräber aus.«
»Ein ehrenwerter Job. Und wenn die armen Goldgräber, wie Sie diese Dummköpfe nennen, zu töricht sind, ihr Geld auf die Bank zu bringen, sind sie selbst schuld.« Er kaute genüsslich. »Habe ich nicht recht, Miss Emmy?«
Miss Emmy goss etwas Rum aus einer kleinen Karaffe in ihren Tee und nahm einen kräftigen Schluck. »So läuft das Geschäft in den Boomtowns. Die einen graben das Gold aus dem Boden, und die anderen lassen es in ihren Kassen verschwinden. Und ich gehöre lieber zu den anderen. Wäre ich einer von den Goldgräbern, würde ich mein Gold nehmen und so schnell wie möglich damit verschwinden, aber das schaffen die meisten nicht. Sie ärgern sich nicht mal, wenn sie ihr Geld verlieren, solange sie ihren Spaß dabei haben.«
Nach dem Essen verabschiedete sich Ralston mit einer tiefen Verbeugung, und weil Miss Emmy in der Nähe stand, sagte er: »Ich würde mich freuen, die Damen bald wiederzusehen. Es war mir ein außerordentliches Vergnügen.«
»Ist er nicht ein wunderbarer Mann?«, schwärmte Miss Emmy, nachdem er gegangen war. »Ein Gentleman der alten Schule, so etwas findet man heute nur noch selten. Also, wenn ich dreißig Jahre jünger wäre …« Sie verriet nicht, was sie dann tun würde, aber ihr Lächeln sagte Clarissa und Dolly auch so genug. »Und was haben Sie heute noch vor?
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