Die Nacht der Wölfe
Zeitung mit den Meldungen von vorgestern, ging sie aus dem Weg. Mehr Mühe hatte sie mit einem stämmigen Burschen, der ihre langen Haare unter der Pelzmütze hervorquellen sah und sie am rechten Arm packte. »Hey … du bist ´ne Frau, stimmt’s? Hätt ich beinahe übersehen, verdammt!« Der Kerl stank nach billigem Fusel und abgestandenem Schweiß. »Wie wär’s denn, wenn wir zwei Hübschen uns in meinem Zelt vergnügen? Sie werden sehen … wenn Sie erst mal mit einem Kerl wie mir … na, Sie wissen schon…«
»Lassen Sie mich los!«, fuhr Clarissa den Betrunkenen an. »Lassen Sie mich sofort los!« Sie schaffte es endlich, sich aus seinem Griff zu befreien, und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Sie warf ihn zurück und ließ ihn in die Arme eines anderen Betrunkenen fallen, der zusammen mit ihm zu Boden stürzte. »Nur weiter so!«, rief jemand. »Ich setze einen Nugget auf die Lady!«
Inzwischen hatte sich ein großer Kreis um sie und die beiden Betrunkenen gebildet, der auch Frank Whittler anlockte. Sie sah ihn bereits kommen, als es ihr endlich gelang, sich einen Weg durch die johlenden Männer zu bahnen und weiter nach Norden zu fliehen. Vorbei an einem Drugstore, an dessen Eingang das Schild eines Rechtsanwalts hing, der im ersten Stock sein Büro hatte, und einem Saloon, in dem jeden Sonntag das Gemälde einer nackten Frau über dem Tresen abgehängt wurde, damit man dort den Gottesdienst abhalten konnte, lief sie über die Planken, begleitet vom spöttischen Gejohle der Männer, die glaubten, sie würde vor dem drohenden Kampf davonlaufen.
Als sie außer Sichtweite war, sah sie sich nach einem Versteck um. Wenn sie auf der Straße blieb, hätte Whittler sie bald eingeholt, und was dann passieren würde, konnte sie sich bildhaft vorstellen. Ungefähr hundert Schritte vor ihr war ein zweistöckiges Holzhaus so in die Böschung gebaut worden, dass das Erdgeschoss auf einer Höhe mit dem flachen Strand und dem zugefrorenen Eismeer lag. Eine steile Treppe führte am Haus entlang nach unten. Über der Treppe pries ein Schild die Dienste einer Wahrsagerin an. »Cosima blickt für dich in die Zukunft!«
Sie überlegte nicht lange, rannte zu der Treppe und stürmte die brüchigen Holzstufen hinunter. Die Tür zum Zimmer der Wahrsagerin lag auf halber Höhe, ursprünglich ein Abstellraum, den sie wahrscheinlich preiswert bekommen hatte. Clarissa öffnete, blickte irritiert nach oben, als ein ganzes Arsenal von kleinen Glöckchen zu klingeln begann, und drückte die Tür zu.
Der kleine Raum war in geheimnisvolles Licht getaucht. Orangefarbene Lampions hingen von der niedrigen Decke herunter und warfen tanzende Lichtflecken auf den gemusterten Teppich, der schon wesentlich bessere Tage gesehen hatte. Die Wände waren mit weißen Tüchern abgehängt, die nur eine schmale Tür freiließen, die wahrscheinlich ins Haus hineinführte. Räucherstäbchen glühten vor sich hin und verströmten einen seltsamen Duft.
Cosima, oder wie immer sie wirklich hieß, thronte hinter einem mit bunten Tüchern behangenen Holztisch, auf dem eine Petroleumlampe schwaches Licht verbreitete, und blickte von ihrer großen Kristallkugel auf, als Clarissa den Raum betrat. Sie trug eine dunkelhaarige Perücke und war so stark geschminkt, dass man kaum noch ihre echte Hautfarbe erkannte. Ihre dunklen Augen erinnerten an eine Indianerin. Sie trug ein dunkelrotes, weit ausgeschnittenes Kleid mit einer gelben Papierblume über dem linken Träger.
»Oh!«, rief die Wahrsagerin erstaunt, als sie den Kopf hob und eine Frau vor sich stehen sah. Sie fing sich aber schnell und zeigte sofort wieder die geheimnisvolle Miene, die man von ihr erwartete. »Setzen Sie sich, meine Liebe! Wenn Sie wissen wollen, was die Zukunft für Sie bereithält, sind Sie bei mir richtig.« Sie sprach mit einem harten Akzent, den sie sich wahrscheinlich antrainiert hatte, weil man ihn von einer Wahrsagerin erwartete. »Aber vorher möchte ich Sie bitten, den vereinbarten Preis zu entrichten …« Sie deutete auf das Preisschild auf dem Tisch. »… denn auch ich muss leben und kann die Geheimnisse meiner magischen Kristallkugel nur gegen einen Obulus verraten.«
Clarissa war viel zu aufgeregt, um ihr zuzuhören. Frank Whittler konnte jeden Augenblick zur Tür hereinkommen »Sie müssen mir helfen! Ich werde verfolgt … von einem gemeinen Mörder! Er will mich umbringen!« Sie deutete auf die kleine Tür. »Wo geht es da hin? Ins Haus? Gibt es eine
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