Die Nacht der Wölfe
Wer ist dieser Mann, nach dem Sie suchen?« Sie hatte Clarissas Frage also nicht vergessen. »Ihr Ehemann?«
Clarissa beschloss, der Wirtin reinen Wein einzuschenken, und verriet ihr wenigstens einen Teil der Wahrheit. Dass Alex schwer krank war und vielleicht nach Norden geflohen war, um ihr nicht zur Last zu fallen. »Es ist nur eine vage Hoffnung, das gebe ich zu, aber falls Sie glauben, ihn zu sehen …«
»… gebe ich Ihnen natürlich sofort Bescheid. Ich würde Ihnen aber empfehlen, auch den US Deputy Marshal aufzusuchen, der weiß am ehesten, was in dieser Stadt vorgeht. Grover S. Martin. Seitdem es hier so zugeht, unterhält er ein Büro in Nome, ungefähr fünf Häuser weiter auf der anderen Straßenseite.«
Um besser auf der morastigen Front Street voranzukommen und für eine überstürzte Flucht gewappnet zu sein, falls Frank Whittler sie entdeckte, tauschten Clarissa und Dolly ihre Röcke gegen wollene Hosen und zogen ihre Pelzmützen, die Anoraks und ihre Stiefel an. Während Dolly sich in der Stadt umsah und nach Alex umhörte, wollte Clarissa den US Deputy Marshal aufsuchen, und nicht nur, um nach Alex zu fragen. »Ich werde ihm sagen, dass Frank Whittler in der Stadt ist. Dann unternimmt er hoffentlich etwas. Es kann doch nicht sein, dass dieser Verbrecher frei herumläuft und er dabei zusieht.«
»Sei bloß vorsichtig!«, warnte Dolly. »Wenn du mich fragst, hatte dieser Ralston gar nicht so unrecht. Es wäre vielleicht besser, wir machen uns aus dem Staub, bevor Whittler auf dich aufmerksam wird. Das ist alles viel zu gefährlich. Ich hab nämlich keine Lust, das Roadhouse ohne dich zu eröffnen.«
Clarissa schüttelte den Kopf. »Ich bin doch nicht den ganzen Weg hierhergefahren, um gleich wieder umzukehren. Aber keine Angst, ich passe auf mich auf. Und wenn alle Stricke reißen, habe ich noch den hier.« Sie schlug mit der flachen Hand auf ihre Anoraktasche mit dem Lee-Enfield-Revolver.
»Du bist nicht Buffalo Bill«, warnte Dolly.
»Manchmal schon … wenn ich die Geschichten lese.«
»Aber das hier ist blutiger Ernst!«
»Ich weiß, Dolly. Wir bleiben nicht lange, okay?«
Sie trennten sich vor dem Haus und gingen in verschiedene Richtungen. Dolly hatte den Vorteil, dass Whittler sie nicht kannte, und konnte sich freier bewegen, dennoch ließ sie die Hand in ihrer Anoraktasche, als sie in der Menge verschwand. Clarissa hielt den Kopf gesenkt, während sie die Straße überquerte, damit man sie nicht gleich als Frau erkannte. Ihre Kleidung unterschied sie kaum von einigen Goldgräbern und Fallenstellern, die sich in der Stadt tummelten, und ihr Gang war von der anstrengenden Fahrt noch etwas steif und ungelenk, sodass man sie auch nicht an ihren Bewegungen erkannte.
Als sie kurz ihren Kopf hob, um nicht über die Planken zu stolpern, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Auf der anderen Straßenseite fuhr Frank Whittler mit seinem Hundeschlitten vorbei, fluchte ungeniert, als ihm einige Männer nur zögernd Platz machten, und verschwand in einer Nebenstraße. Er hatte inzwischen also auch gelernt, einen Schlitten zu steuern.
»Frank Whittler!«, wiederholte sie seinen Namen verächtlich.
32
Erst als einige Männer, die ihr entgegenkamen, sie neugierig anblickten, löste sie sich aus ihrer Erstarrung. Dolly hatte recht, der Revolver nützte ihr gar nichts, wenn sie Frank Whittler gegenüberstand, sie würde vor lauter Schreck zu keiner Bewegung fähig sein. Ein Grund mehr, das Gesetz auf ihn aufmerksam zu machen. »US Deputy Marshal« stand in großen Lettern auf dem Schild, das über der Eingangstür eines verwitterten Holzhauses hing.
Sie klopfte und trat ein, doch erst als sie ihre Pelzmütze abnahm, und sich ihre Haare lösten und offen auf ihre Schultern fielen, sah der Marshal von seinen Papieren auf. Er saß hinter einem schlichten Holztisch, hinter sich ein Rollschrank mit Akten und Papieren, ein drahtiger Mann mit der Andeutung eines Vollbartes, der ihn wohl älter erscheinen lassen sollte. Er war ungefähr in Clarissas Alter und gab sich reichlich Mühe, wie ein Mann zu wirken, An seinem Hemd hing ein silbernes Abzeichen, das ihn als Marshal auswies.
»Oh …«, reagierte er betreten, »entschuldigen Sie! Ich hab gar nicht gesehen, dass Sie ein Lady sind … Ich meine natürlich …« Er wirkte reichlich nervös für einen Mann in seiner Stellung. »Was kann ich für Sie tun, Ma’am?«
»Ich suche einen Mann«, erkundigte sie sich zuerst nach Alex. Sie verriet ihm
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