Die Nacht der Wölfe
Sie in ein Heim stecken müsste. Und jetzt machen Sie, dass Sie wegkommen! Nicht, dass er sich’s anders überlegt und noch mal zurückkommt. Der bringt es fertig und schlägt mir meinen Laden tatsächlich kurz und klein, und ich hab keine Lust, wieder Hotelzimmer zu putzen und schmutzige Bettpfannen zu leeren.«
Clarissa blieb zögernd stehen.
»Was ist denn noch?«
»Können Sie wirklich in die Zukunft blicken?« Sie deutete auf die schimmerde Kristallkugel. »Ich suche meinen Mann, wissen Sie? Er ist sehr krank, und es könnte sein, dass er sich aus dem Staub gemacht hat, um mir nicht zur Last zu fallen. Können Sie sehen, ob er noch am Leben ist, und wo ich ihn finden kann? Ich zahle auch dafür.« Sie zog ihren Lederbeutel aus der Tasche.
Das Gesicht der Wahrsagerin verzog sich zu einem Lächeln. Sie griff gierig nach den Goldkörnern, die Clarissa ihr reichte, verstaute sie in einer verborgenen Tasche ihres Kleides und beugte sich mit ernster Miene über ihre Kugel. Nach einer Beschwörungsformel, die wie »Abakadabra« begonnen hatte, nur sehr viel länger war, drehte sie die Kugel in beiden Händen und sagte, jetzt wieder mit osteuropäischem Akzent: »Oh, ihr geheimnisvollen Mächte, die ihr über unsere Zukunft bestimmt, öffnet die Tore eures Reiches und sagt mir, ob diese Frau noch hoffen darf, Ihren Mann jemals wiederzusehen, und sagt mir auch …« Sie richtete sich auf und fluchte laut. Wieder im Hafenslang sagte sie: »Ich will Ihnen nichts vormachen, Ma’am. Wenn Sie von mir die Zukunft erfahren wollen, können Sie sich auch den nächsten Betrunkenen schnappen und sein Gebrabbel für bare Münze nehmen. Ich kann genauso wenig in die Zukunft sehen wie jeder andere hier in Nome. Also nehmen Sie Ihre Goldkörner und hauen Sie endlich ab! Verschwinden Sie!«
Clarissa bemerkte, dass die Wahrsagerin den Tränen nahe war, und winkte ab. »Behalten Sie die Goldkörner! Sie haben mir mehr geholfen, als Sie sich vorstellen können. Und machen Sie sich keine Sorgen, Ihr Geheimnis ist gut bei mir aufgehoben. Sie sind wahrscheinlich noch die Ehrlichste in Nome.«
Sie verließ die Wahrsagerin und stieg die morsche Holztreppe zur Straße zurück. Inzwischen war es noch dunkler geworden, am Himmel waren Wolken aufgezogen, und das einzige Licht auf der Front Street kam von den Lampen und Fackeln, die an jeder Straßenecke und vor den Saloons und anderen Etablissements brannten. Jetzt am frühen Abend schienen noch mehr Menschen unterwegs zu sein, und das Klimpern der Walzenklaviere, Gläserklirren, Stiefelscharren, dazu das helle Lachen von den Saloon Girls und leichten Mädchen drang weit auf die Straße. Ein Sündenbabel, dieses Nome, noch verkommener als Skaguay und Dawson City, beides Städte, die nicht so groß und auch nicht so gesetzlos wie Nome gewesen waren.
Clarissa sah sich aufmerksam um, konnte Whittler aber nirgendwo entdecken. Anscheinend war sie lange genug bei der Wahrsagerin geblieben, und er war längst verschwunden, auch wenn er eine Zeitlang gewartet hatte, in der Hoffnung, dass sie vielleicht doch noch auftauchte. Sie trat aus dem Licht einer Fackel und überquerte rasch die Straße, musste erneut Fuhrwerken und Hundeschlitten ausweichen und suchte Schutz im Schatten einiger Vorbaudächer auf der anderen Straßenseite. Als sie am Golden Nugget, einem der größten Saloons, vorbeikam und sich beeilte, aus den unruhigen Lichtkegeln einiger Fackeln herauszukommen, packte plötzlich jemand ihren Arm und zog sie in eine schmale Gasse zwischen dem Saloon und dem Nachbarhaus. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen und wollte um Hilfe rufen, doch der Arm des Fremden hielt sie fest umklammert, und als sie schreien wollte, drückte er seine Hand auf ihren Mund. »Keine Angst! Ich bin’s … Sam Ralston! Beruhigen Sie sich! Ich will Ihnen doch nur helfen!«
Sie erkannte die Stimme des Spielers und entspannte sich. »Sam! Was soll das? Was ist denn los?«, flüsterte sie, nachdem er sie losgelassen hatte. »Geht das nicht etwas weniger dramatisch? Ich hab heute schon genug mitgemacht.«
»Frank Whittler! Auf der anderen Straßenseite! Sehen Sie?« Er deutete auf den Drugstore gegenüber, und dort stand er tatsächlich, mit offenem Pelzmantel und einem Revolver am Gürtel. Er blickte suchend nach Norden, die Hand auf seiner Waffe, als wollte er sofort schießen, wenn er sie entdeckte.
»Und ich dachte, er hätte sich schon verzogen. Ich hatte mich bei der Wahrsagerin versteckt. Wenn Sie mich
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