Die Nacht der Wölfe
hinzu: »Aber ich werde mich natürlich sofort mit Captain Brooks in Verbindung setzen. Sie können sich darauf verlassen, dass wir der Sache nachgehen werden. Und Ihnen würde ich empfehlen, so bald wie möglich nach Hause zu fahren. Auch ohne einen Mann wie Whittler ist dies kein Ort für Sie.«
»Ich werde darüber nachdenken, Marshal.«
Sie verließ das Büro und stapfte wütend davon. Erst einige Häuser weiter blieb sie kopfschüttelnd stehen. Entweder fürchtete sich der Marshal davor, Frank Whittler gegenüberzutreten, oder die ganze Angelegenheit war ihm zu lästig, und er kramte lieber in seinen Papieren. Oder beides. Sie bezweifelte jedenfalls, dass er sich mit der Armee in Verbindung setzen würde, und vermutete, er würde die Sache aussitzen und darauf hoffen, dass Whittler in Nome kein weiteres Verbrechen beging. Wahrscheinlich nahm er an, dass Whittler in Nome nur untertauchen wollte und verschwand, sobald Gras über die Sache gewachsen war und man im Süden nicht mehr nach ihm suchte.
Sie ging einem betrunkenen Goldsucher aus dem Weg, der bereits den nächsten Saloon ansteuerte, und lehnte sich gegen eine Hauswand. Jetzt schien sich sogar das Gesetz gegen sie verschworen zu haben. Doch sie räumte ein, dass Dolly und Sam Ralston und sogar der Marshal mit ihrer Empfehlung, so schnell wie möglich nach Hause zurückzufahren, recht hatten. Wenn sie weiter in Nome blieb, riskierte sie, jeden Augenblick von Frank Whittler entdeckt zu werden. In dem Gewühl auf der Front Street wäre es ein Leichtes für ihn, sie zu erstechen oder zu erschießen. In dem Tumult, der einem solchen Mord unweigerlich folgte, konnte er sich in aller Seelenruhe davonmachen und wäre längst aus der Stadt verschwunden, wenn das Gesetz oder die Armee nach ihm suchten.
Sie beschloss, in einigen Hotels und Pensionen nach Alex zu fragen und am Nachmittag mit dem Hundeschlitten zu Crazy Craig hinauszufahren und dann tatsächlich nach Fairbanks zurückzukehren. Dolly hatte recht, hier in Nome würden sie Alex nicht finden. Wenn er wirklich noch am Leben war, gab es Hunderte Indianerdörfer nördlich des Yukon, und es würde Monate dauern, sie alle abzufahren. Eine späte Erkenntnis, aber vielleicht nicht zu spät, nachdem sie voller Hoffnung und Zuversicht nach Nome aufgebrochen war. Aber konnte man es ihr verdenken, wenn sie selbst im Traum eines Indianers oder Yupik oder einer leisen Andeutung einen Hoffnungsschimmer sah? Manche Frauen hofften ein Leben lang auf die Rückkehr ihres Mannes.
Ein Mann wurde gegen sie gedrückt, und sie blickte erstaunt auf. Frank Whittler bahnte sich mit rudernden Armen einen Weg durch die Menge. Er hatte sie entdeckt! Nur die dichte Menschenmenge auf der Front Street verhinderte, dass er schnell genug bei ihr war. In dem Gewühl von Fuhrwerken, Hundeschlitten und Passanten, viele davon betrunken und durch den Schneematsch torkelnd, kam er nur langsam voran, doch er hatte sie im Blick, und im Schein der bunten Laternen vor dem Saloon und der Spielhalle gegenüber erkannte sie nackte Mordlust in seinen Augen.
Sie reagierte instinktiv und stieg die steile Treppe in das Untergeschoss eines Hauses hinunter, in dem eine chinesische Wäscherei untergebracht war. Sie rannte durch den Waschraum, riss im Laufen einige Leinen mit Wäsche von den Haken und sah sich einem entsetzten Chinesen gegenüber, der beide Hände über dem Kopf zusammenschlug und radebrechte: »Was machen Frau mit saubere Wäsche? Warum werfen Hemden in Schmutz?«
Ihr blieb keine Zeit für eine Antwort. Von Panik getrieben, riss sie eine Tür auf, lief an einer Frau und zwei Mädchen vorbei, die im Schein von Petroleumlampen schmutzige Wäsche in ihre Waschtröge tauchten und auf Brettern säuberten, öffnete eine weitere Tür und fand sich im tiefen Schnee unterhalb der Front Street wieder. Sie tastete sich durch die Dunkelheit, die abseits der Straße noch schwärzer war, und kletterte über behelfsmäßige Stufen, die Passanten in den Schnee getreten hatten, auf die Front Street zurück.
Gehetzt blickte sie sich um. Frank Whittler war nirgendwo zu sehen, wahrscheinlich löcherte er die Chinesen in der Wäscherei. Sie nutzte ihren Vorteil, drängelte auf die andere Seite der Straße, wo es mehr Schatten gab, und lief mit ruhigen Schritten an den Häusern entlang. Die billigen Scherze eines Clowns, der für eines der Restaurants warb, überhörte sie geflissentlich, und auch dem Jungen, der lautstark den Nome Nugget anpries, eine
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