Die Nacht der Wölfe
genauso viel wie Miss Emmy und konnte bereits an seiner Miene ablesen, wie die Antwort ausfallen würde. »Ich weiß, hier kommen ständig neue Männer an, und Sie können nicht jeden Einzelnen überprüfen, aber vielleicht erinnern Sie sich doch an ihn. Er muss starke Kopfschmerzen haben. So ein Mann muss einem doch auffallen … ein Fallensteller auf einem Hundeschlitten. War er in Nome, oder haben Sie gehört, dass sich so ein Mann hier in der Nähe aufhält?«
»Tut mir leid, Ma’am, ich würde Ihnen gerne helfen, aber an einen solchen Mann kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht fragen Sie mal in den Hotels und Pensionen, davon gibt es eine ganze Reihe hier in Nome. Wenn er in einem Zelt übernachtet hat, war er bestimmt weiter draußen. Fragen Sie bei Crazy Craig … eigentlich heißt er Craig Oliver, aber hier nennen ihn alle nur Crazy Craig … Er züchtet Rentiere, ungefähr zehn Meilen nördlich der Stadt.«
»Vielen Dank, Marshal. Das werde ich tun.«
»Dann viel Glück, Ma’am«, wünschte ihr der Marshal, anscheinend froh darüber, sie wieder loszuwerden. »Ich hoffe, Sie finden Ihren Mann wieder!«
Er wollte sich schon setzen, aber Clarissa hielt ihn zurück. »Da wäre noch etwas, Marshal … In Ihrer Stadt hält sich ein gefährlicher Verbrecher auf …«
»Oh, ich weiß. Eine weiße Weste haben hier nur wenige.«
»Ich spreche von einem Mörder, Marshal. Einem mehrfachen Mörder und Vergewaltiger. Sein Name ist Frank Whittler. Er hat eine Bank in Anchorage überfallen und einen Kassierer getötet. Sie haben von dem Mann gehört?«
Der Marshal nickte widerwillig. »Ich kenne seinen Namen, und ich weiß, dass er in Anchorage eine Bank überfallen und einen Kassierer getötet hat.«
»Und das ist nicht alles, Marshal. Unterwegs hat er seine beiden Komplizen umgebracht und ein Indianermädchen vergewaltigt … und das sind nur die Straftaten, von denen ich sicher weiß. Er ist ein äußerst gefährlicher Mann!«
»Davon weiß ich nichts.«
»Haben Sie denn keinen Telegrafen in Nome?«
»Der soll nächstes Jahr kommen, Ma’am.«
»Aber die Armee in Fort St. Michael hat einen.«
Der Marshal schien sich in ihrer Gegenwart immer unbehaglicher zu fühlen. »Die Armee lässt sich hier nur alle paar Monate mal blicken, Ma’am. Ich kann nur von dem ausgehen, was ich schriftlich auf meinem Tisch liegen habe.« Er stutzte. »Sagten Sie, dieser Frank Whittler wäre hier in der Stadt?«
»Ich habe ihn vor ungefähr zehn Minuten gesehen, Marshal … bevor ich Ihr Büro betreten habe. Und falls Sie glauben, ich würde mir das alles nur einbilden … Ich täusche mich nicht. Ich kenne Frank Whittler besser als die meisten anderen. Vor einigen Jahren hat er versucht, auch mich zu vergewaltigen, und er ist heute noch hinter mir her, um sich an mir zu rächen. Es klingt vielleicht etwas seltsam für einen Millionärssohn, der sich jahrelang fast jede Frau kaufen konnte, die ihm gefiel … aber er konnte nicht ertragen, dass ich nicht für ihn zu haben war, und er trachtet mir seitdem nach dem Leben. Sie müssen ihn festnehmen, Marshal! Er ist in die Nebenstraße dort drüben gefahren.« Sie deutete durch das schmutzige Fenster über die Leute auf der Straße hinweg.
»Das würde ich gerne tun, Ma’am, aber ich habe leider keinen Haftbefehl. Offiziell weiß ich nicht mal, dass er seine Komplizen umgebracht und das Indianermädchen vergewaltigt hat, wie Sie sagen. Ich habe nur Ihr Wort, und Sie können sich sicher denken, was ein geschickter Verteidiger daraus macht, wenn Sie als einzige Zeugin gegen Whittler aussagen. Er wird von Rachsucht sprechen, von der fixen Idee, Whittler ans Messer zu liefern.«
»Ich bin nicht die einzige Zeugin«, widersprach Clarissa. »Für den Mord an dem Kassierer gibt es einige verlässliche Zeugen, und das reicht für eine Verurteilung. Nehmen Sie ihn fest, bevor er noch mehr Unheil anrichtet.«
»Ich kann nicht, Ma’am. Mir sind die Hände gebunden. Selbst von dem Bankraub weiß ich nur vom Hörensagen. Hier im hohen Norden steht es mit der Kommunikation nicht zum Besten, das soll sich erst in den nächsten Jahren ändern, und so lange bin ich auf die Meldungen der Armee und den Papierkram angewiesen. Was ist, wenn Sie sich irren? Die Beschreibung, die ich von Frank Whittler kenne, passt auf die Hälfte aller Männer in Nome. Ich komme in Teufels Küche, wenn ich den falschen Mann verhafte.« Er sah wohl, dass sie ihm diese Ausreden nicht abnahm, und fügte rasch
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