Die Nacht der Wölfe
Fellmütze und die Handschuhe ab, zog ihr die Stiefel aus und redete auf seine Frau ein. Zu Clarissa gewandt, sagte er: »Ich kümmere mich um die Hunde und hole Ihre Sachen ins Haus.«
»Danke … vielen Dank …«, brachte sie mühsam hervor.
Die Frau des Indianers freute sich offensichtlich darauf, sie zu bemuttern, und entzündete die Petroleumlampe auf einer Kommode neben ihrem Nachtlager. Im Lichtschein leuchtete ihr faltiges Gesicht mit den ausdrucksstarken Augen und den hohen Wangenknochen. In ihrer Jugend musste sie einmal sehr schön gewesen sein. Ihre weißen Haare waren wie bei ihrem Mann zu Zöpfen gebunden und reichten bis auf ihre Schultern. Sie trug ein Kleid aus Karibuleder und eine Kette aus bunten Muscheln, auch ein Zeichen dafür, dass sie sich der Kultur der Weißen nicht vollkommen untergeordnet hatte. Die meisten Indianer kleideten sich wie Weiße und lebten nach deren Regeln.
»Ich bin Rose«, stellte sich die Indianerin vor. Sie wählte die vertraute Anrede. »Ich werde deine Wunde verarzten und dich wieder gesundpflegen.« Ihre Worte klangen sachlich, wurden aber von einem milden Lächeln begleitet.
Clarissa nickte schwach und nannte ihren Namen. Sie wollte erklären, was geschehen war, aber die Indianerin hatte bereits alles Wichtige von ihrem Mann erfahren und wusste Bescheid. »Ich danke dir«, brachte Clarissa hervor.
»Zuerst müssen wir den Anorak loswerden.« Ihr Akzent war stärker als der ihres Mannes, und sie war nur schwer zu verstehen. »Das wird jetzt wehtun, geht aber leider nicht anders. Ich will den guten Anorak nicht aufschneiden!«
Clarissa wäre auch das egal gewesen, und wenn sie gewusst hätte, wie weh es tat, hätte sie vielleicht sogar darauf bestanden. Sie schrie vor Schmerzen laut auf, als Rose ihr den Anorak vom Körper streifte, hatte Tränen in den Augen, obwohl die Indianerin den linken Ärmel so sanft wie möglich an der offenen Wunde vorbeizog. Die Stelle an ihrem Oberarm brannte wie Feuer.
Die Bluse öffnete Rose mit einer Schere, sie war blutverschmiert und sowieso nicht mehr zu gebrauchen. Sie schmolz etwas Schnee in einer Schüssel auf dem Kanonenofen, tauchte einen Lappen in das heiße Wasser und wischte das Blut von ihrer Haut. Ihre Augen drückten Sorge aus. »Die Wunde ist sehr tief. Es wird einige Zeit dauern, bis sie verheilt ist.« Sie nahm einige getrocknete Kräuter aus dem kleinen Lederbeutel, den sie an ihrem Gürtel trug, und zerkaute sie zu einem Brei. »Diese Kräuter werden die Entzündung lindern.« Sie verteilte den Brei auf der Wunde und bedeckte die Heilkräuter mit einem Verband, den sie aus dem sauberen Stoff der aufgeschnittenen Bluse riss.
Clarissa wusste nicht, ob sie sich die Wirkung der geheimnisvollen Kräuter nur einbildete, auf jeden Fall fühlte sie sich schon nach kurzer Zeit besser und konnte schon wieder klar denken. Dankbar griff sie nach dem Becher mit heißem Tee, den Rose ihr reichte. »Aus Weidenrinde«, erklärte die Indianerin, »gut gegen die Schmerzen, und damit dein Körper nicht heiß wird. Du solltest ein wenig schlafen, wenn du den Tee getrunken hast. Du brauchst viel Ruhe.«
Sie nippte vorsichtig an dem Tee und registrierte dankbar, wie das heiße Getränk durch ihren Körper rann. An den Geschmack musste sie sich erst gewöhnen, sie trank meist gesüßten Kaffee oder Tee, und die Weidenrinde schmeckte eher bitter, wirkte aber schon nach kurzer Zeit. Fast noch schneller als das Schmerzpulver, das Betty-Sue den Dorfbewohnern verabreicht hatte. »Der tut gut«, bedankte sie sich bei der Indianerin.
Nachdem sie den Becher geleert hatte, schaffte sie es gerade noch, ihn neben ihr Nachtlager zu stellen, so schnell schlief sie ein. Anscheinend hatte Rose noch ein paar Kräuter dazugegeben, die ihr zu tiefem Schlaf verhelfen sollten. Sie war dankbar dafür und versank in einen tiefen Traum, der zum Glück keine schrecklichen Bilder mehr für sie bereithielt und sie stattdessen in eine unbeschwerte Stimmung versetzte, so wie sie sich fühlte, wenn sie allein mit dem Hundeschlitten in der Natur unterwegs war und genau wusste, dass Alex zu Hause auf sie wartete. Kein Schmerz mehr, kein Blizzard, keine drohenden Verbrecher, keine Angst, nur grenzenlose Harmonie.
Als sie aufwachte, fühlte sich die Wunde wesentlich besser an, und Clarissa konnte sogar ihren Arm etwas bewegen, ohne dass stechender Schmerz durch ihren Körper fuhr. Sie öffnete die Augen und sah den Widerschein der Petroleumlampe an der Decke. Ein
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